Im Text und in den Illustrationen haben wir versucht, ein möglichst wahrheitsgetreues Bild von Amélies Leben darzustellen. Dennoch muss die Frage, wie es damals wirklich war, immer wieder neu gestellt werden. Darüber zum Beispiel, was Amélie als Kind und Jugendliche tatsächlich dachte, fühlte, sagte oder tat, wissen wir sehr wenig, das versuchen wir uns lediglich vorzustellen. Hinzu kommt, dass sich die Forschung nicht immer einig ist: Könnte es so gewesen sein oder war es vielleicht doch ganz anders? Doch hartnäckiges Fragen und Suchen lohnt sich. Obwohl wir schon einiges über Amélie wussten, haben wir während der Entstehung unseres Buches viel Neues dazugelernt. Die Bilder, die sich dabei am Ende ergeben haben, sind nicht vollständig, aber äußerst interessant.
Nun sind aber mehrere nebeneinanderstehende Bilder noch keine Geschichte. Um sie mit Leben zu erfüllen und zueinander in Beziehung zu setzen, haben wir die meisten Handlungen, Gespräche und auch einige der Nebenfiguren frei erfunden. Aus dem wahren Geschehen und unserer eigenen Phantasie haben wir etwas Neues entwickelt. Ihr wisst selbst, wie viel Spaß es machen kann, sich Geschichten auszudenken! Schließlich besteht das Leben aus weit mehr als Tatsachen. Das wusste übrigens auch unsere Amélie, die sich in unserem Buch mit einem prachtvollen Märchenwesen anfreundete. Je älter sie wurde, umso unklarer war ihr allerdings, ob sie ihm wirklich begegnet war oder … Womöglich habt ihr eine solche Erfahrung auch schon gemacht.
Ihr fragt euch vielleicht, wie wir überhaupt auf Amélie gekommen sind und warum wir uns gerade für ihre Kindheit und Jugend so interessieren. Wir drei, die dieses Buch für euch geschrieben und gezeichnet haben, und der Knabe Verlag, sind in Weimar in Thüringen zu Hause, und die Idee zu unserem Buch wurde hier geboren. Sie hängt mit der geschichtlichen Bedeutung zusammen, die Amélie nach ihrer Heirat bekam. Da lebte sie nämlich in unserer Stadt als Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach. Ihr Name ist mit der geschichtlichen Epoche der „Weimarer Klassik“ verbunden, mit Namen wie Goethe und Schiller, aber auch Corona Schröter und Charlotte von Stein. Von dieser Zeit soll dann unser zweiter Band handeln.
Zugegeben: Unser Buch stellt euch vor eine richtige Herausforderung. Es ist keine leichte Kost und bietet einige Stolpersteine: Wortsteine, kleine harte Brocken, an denen ihr euch stoßen könntet. Es kommen alte Namen und Begriffe vor, die ihr womöglich noch nie gehört habt, altmodische, ja gestelzt erscheinende, aber oft sehr schöne Wörter. Sie zeigen, was die deutsche Sprache alles zu bieten hat – oder im 18. Jahrhundert zu bieten hatte. Macht euch doch einmal den Spaß und benutzt so ein Wort in einem ganz normalen Gespräch. Wir haben diese Wörter entweder gleich in der Geschichte erläutert oder im Text mit einem Punkt markiert und dann im Anhang in einem alphabetischen Verzeichnis erklärt. Unsere Amélie hatte mit noch größeren und schwereren Stolpersteinen zu kämpfen. Lasst euch überraschen, wie sie damit umgegangen ist! Sie war schließlich eine ziemlich kluge kleine Prinzessin, davon kann man sich manches abschauen … Mehr wird nicht verraten.
Jetzt wünschen wir euch: Viel Freude beim Lesen!
Kapitel 1
In welchem wir Amélie kennenlernen, die sich tapfer und phantasievoll dem nicht ganz einfachen Leben einer Prinzessin stellt
Amélie war enttäuscht, ja, und wütend vielleicht auch. Aber es war nicht erlaubt, mit dem Fuß aufzustampfen, es war nicht erlaubt, ein Widerwort zu geben: Noch nicht einmal „Nein, ich kann das nicht essen!“, durfte man sagen, wenn irgendein ganz furchtbares Gericht auf den Tisch kam. So wie die Taube beim Festessen neulich, mit der sie Mitleid gehabt hatte. All das hatte das Mädchen mit seinen sieben Jahren gelernt herunterzuschlucken und dabei zu lächeln. Außerdem schreiben und französisch sprechen – das konnten alle Geschwister eigentlich von Beginn an besser als deutsch, damit waren sie aufgewachsen. Und tanzen, feine Handarbeiten mit unendlich sich verwirrenden Fäden herstellen und immer Geduld üben. Etwa, wenn es ans Frisieren ging, das ewig dauerte, bis die Haare endlich der riesige Turmaufbau waren, den die Mode vorschrieb.
Aber heute war es einfach zu viel gewesen: Amélie durfte nicht mit den Brüdern und Schwestern in das Lustschloss• Salzdahlum fahren. Dort würden sie vielleicht in den wunderbaren Laubengängen• schon längst Verstecken spielen, Hütten bauen und mit den Hunden tollen. Es war einfach gemein. Als Strafe für ein paar ganz kleine Streiche musste sie zu Hause bleiben. Oder war es vielleicht schlimm, Madame Benzin, der Hofmeisterin•, die alles in ihrem Leben und dem ihrer Schwestern bestimmte, heimlich hinter dem Rücken eine Nase zu drehen oder ihr eine Spinne in den Rückenausschnitt ihres Kleids gleiten zu lassen? Oder war es so furchtbar, im Gottesdienst zu lachen, als von Jesus und dem Lahmen die Rede war? Als es hieß, dass Jesus ihn aufforderte, aufzustehen, sein Bett zu nehmen und zu wandeln, hatte sie das überlegt: Wie wäre es gewesen, wenn der Lahme ihr Vater gewesen wäre und das tonnenschwere Prunkbett herumgetragen hätte? Das war doch komisch! Nein, ihre Vergehen waren nicht schlimm, befand sie trotzig. Warum war die Benzin denn auch immer so übel gelaunt?
Außerdem war es immer dasselbe: Abt• Jerusalem, der ihren Unterricht und den der älteren Schwester kontrollierte, ließ keine Gelegenheit aus, Caroline zu loben. Amélie selbst wurde von ihm als „noch wenig gebildet“ bezeichnet. Caroline war neun, aber ein Muster aller Tugenden. Sie war klug, ihr Benehmen war vollkommen und sie war, wie die Eltern betonten, sehr schön. Von ihr selbst war nie die Rede, sie war einfach unwichtig. Warum nur? Sie ahnte es. Nur eines wurde hervorgehoben: Ihr feines Ohr, das es ihr möglich machte, jeden vorgesungenen Ton genau richtig zu treffen.
Amélie, so rief man sie – ihr deutscher Name, Anna Amalia, zierte nur die Geburtsurkunde – beschloss in ihrer Wut und Enttäuschung über den verpassten Ausflug, aber auch überhaupt (!) zu verschwinden. Wenn es an ihr so wenig zu loben gab, dann war sie ja wohl überflüssig! Außerdem hatten die Eltern nun wirklich genug Kinder. Sie hatte zwei ältere Geschwister und fünf jüngere – drei andere Geschwister waren schon früh verstorben. Gerade eben war eine neue Schwester angekommen, Friederike Wilhelmine, und zwei weitere Geschwister würden noch kommen. Kurz und gut: Sie drehte sich auf dem Absatz um. Ihr Ziel: Weg von hier.
Wenig später war sie wirklich, unter dem Vorwand, ein stilles Örtchen besuchen zu müssen, in ein Treppenhaus geschlüpft, das nur die Diener benutzten. Das war streng verboten, denn im Wolfenbütteler Schloss gab es eine riesige Menge von Regeln für alle Menschen, die hier lebten und arbeiteten. Und da war es auch ganz deutlich, wer welche Treppen benutzen durfte, welche Räume aufsuchen konnte oder eben nicht. Gerade Toiletten oder Abtritte, wie sie auch genannt wurden, waren nur für die Bedienten da. Sie selbst und ihre Eltern hatten in ihren Gemächern kleine Kabinette• oder auch Nachtstühle und -töpfe. Dieses dunkle Nebentreppenhaus jedenfalls war ihr und ihren Geschwistern streng verboten. Mit einer kleinen Gänsehaut überlaufen, weil sie ein Verbot übertreten hatte, und einem entsprechend kleinem schlechten Gewissen behaftet, war sie aber dennoch entschlossen nach unten in das Parterre• des Schlosses gelangt. Und nachdem sie durch den dunklen, muffig riechenden Kellergang gehuscht war, entwischte sie durch eine unscheinbare, schwere Holztür aus dem Schloss. Vom Sonnenschein geblendet stand sie nun direkt am Mühlgraben, einem Seitenarm der Oker. Danach klopfte ihr Herz ganz gewaltig, stellte sie fest und wollte schon den Mut verlieren. Aber dann kam die Wut wieder: alle anderen waren in Salzdahlum. Nur sie und die neugeborene Schwester Friederike, die natürlich nicht laufen konnte, hatten zurückbleiben müssen. Nein, sie hatte keine Angst, im Gegenteil: Sie würde allein einen schönen Nachmittag