Alle meine Hoffnungen waren darauf gerichtet, bald aus diesem Kasernenhofton und der »Schleiferei« herauszukommen. Das geschah am 4. Oktober.
Aber schon am 20. Oktober wurde ich, nach einem kurzen Skilehrgang in Schmallenberg, an der Ostfront eingesetzt.
Sechs Tage später geriet ich in sowjetische Gefangenschaft. Das war die Zeit, als die Front immer näher an Polen und Deutschland heranrückte.
Nach dem, was ich zu Hause ständig über »die Russen« gehört hatte, stieg in mir die Furcht hoch, daß es jetzt mit meinem Leben zu Ende sein könnte. Wir wurden als Gefangene nicht mit Glacehandschuhen empfangen. Die Waffen, soweit wir sie nicht schon weggeworfen hatten, wurden uns abgenommen. Dann hieß es: »Brieftaschen raus! Uhren abgeben!« Essen gab es zunächst nicht, dafür manchmal einen Tritt oder Schlag, wenn wir nicht reagierten, weil die Anweisungen in Russisch keiner verstand. Wir waren die »Fritzen« oder »Hitlerschweine«, diejenigen, die großes Leid über die Sowjetunion gebracht hatten.
Dennoch, wir lebten, der Krieg war für uns zu Ende.
Erstes Nachdenken
Durch meinen Beruf als Drogist hatte ich den Vorteil, im Verbandsraum der Lagerapotheke eingesetzt zu werden. Dort waren sowjetische und auch deutsche Verwundete, die behandelt und verbunden werden mußten.
Ein verwundeter sowjetischer Offizier erkundigte sich nach meiner Herkunft, meiner Heimat. Als ich ihm sagte, daß ich aus Düsseldorf komme, reagierte er in einem recht gutem Deutsch: »Aus der Heinestadt.« Damit konnte ich nichts anfangen und mein Gesprächspartner konnte es kaum glauben, daß ich nicht wußte, wer oder was Heine war. Wie war mir das peinlich, vom Volk der Dichter und Denker zu hören und nichts von Heine zu wissen. Ich erfuhr von diesem Offizier noch, daß Hitler auch die Bücher von Heine habe verbrennen lassen. Seine Aufforderung, mich später in Düsseldorf nach Heine zu erkundigen, ist mir nie aus dem Kopf gegangen.
Als Hilfssanitäter in der Gefangenschaft hatte ich oft mit deutschen Verwundeten Gespräche und später, auf dem sowjetischen Verbandsplatz, mit sowjetischen Verwundeten. Dabei gab es auch sehr unangenehme Begegnungen. Oft wurde ich als Faschist oder Fritz – wahrscheinlich bezogen auf den Soldatenkönig Friedrich – bezeichnet. Auch Drohungen und Handgreiflichkeiten waren nicht selten. In diesen Situationen stand mir die Chefärztin, Frau Dr. Lauchina aus Orel, zur Seite. Sie, in Offiziersuniform, erklärte den neu von der Front gekommenen Verwundeten, daß ich kein Faschist, sondern ein Antifaschist sei. Und wieder wußte ich mit diesem Begriff nichts anzufangen.
Bald aber wurde ich aufgeklärt und es begann eine neue Peinlichkeit. Nämlich als in Gefangenschaft geratene und verwundete Deutsche eintrafen, die mich, als sie vom Antifaschisten hörten, oft schief ansahen.
Für mich wurde die Gefangenschaft, die Arbeit im Feldlazarett, eine Zeit, in der es über vieles nachzudenken gab.
Und was das Essen betrifft, wir bekamen nicht weniger als die sowjetischen Soldaten. Das war mehr als die Zivilisten hinter der Front erhielten, dort, wo die deutsche Wehrmacht eine verbrannte Erde hinterlassen hatte.
Auf dem Weg in die Heimat
Als Sanitäter wurde ich für Transporte von arbeitsunfähigen Gefangenen nach Deutschland, Frankfurt an der Oder, eingesetzt. Beim zweiten Transport gab es in Landsberg an der Warte einen Aufenthalt, weil Brennmaterial für die Lokomotive beschafft werden mußte. Da kam eine Gruppe von Zivilisten auf uns zu. Es waren Frauen und Kinder, die nach Deutschland wollten.
Auf meine Frage an den sowjetischen Zugkommandanten erklärte er: »Wenn deine Frau dabei ist, nehme ich die Leute mit, aber nicht zusammen mit den Gefangenen in einem Güterwagen«.
Ich schloß daraus, einen Waggon für die Zivilpersonen auslagern zu lassen. Vor unserer Ankunft in Frankfurt/Oder gab ich einer Frau, die mit ihrer Mutter und ihrem vierjährigen Jungen unterwegs war, die Adresse meiner Eltern. Ich bat sie, ihnen zu schreiben, daß ich lebe und in sowjetischer Kriegsgefangenschaft sei.
Das hat sie, wie ich später erfahren konnte, auch getan.
Entgegen meinen Vermutungen wurde ich schon am 11. Dezember 1945 in Frankfurt/Oder aus der Gefangenschaft entlassen. Über Berlin-Staaken, Münster, Wetze am Niederrhein ging es nach Düsseldorf. Am 22. 12. 1945 traf ich, 20 Jahre jung, aus Krieg und Gefangenschaft bei der Familie ein. Kurz zuvor war mein Vater, 45-jährig, aus englischer Gefangenschaft nach Hause gekommen, ebenso der jüngere Bruder mit 16 Jahren aus sowjetischer Gefangenschaft.
Meine Mutter war mit den vier kleineren Geschwistern aus Thüringen gekommen.
Nach der Trennung waren wir jetzt wieder alle zusammen in Düsseldorf, der »Heine-Stadt«, in der ich meine Kindheit und die Bombennächte erlebt hatte.
Der Krieg war zu Ende. In Düsseldorf hatten Antifaschisten eine große Anschlagstafel aufgestellt, auf der ich lesen konnte:
»243 Luftangriffe, 1.100.000 Brand- und Sprengbomben, 27.000 Brände in Düsseldorf, zerstört wurden 24.000 Häuser, 6000 tote Frauen und Kinder liegen unter 10 Millionen Kubikmetern Schutt. 4000 Kriegsversehrte und 49.000 Hinterbliebene, 3500 jüdische Düsseldorfer in Konzentrationslagern vergast oder anders umgebracht. Über 4000 aktive Hitlergegner in Düsseldorf haben ihr Leben geopfert, in 110 Prozessen wurden 1800 Angeklagte zu 4900 Jahren Haft verurteilt. Unzählige sind ohne Verfahren inhaftiert und misshandelt worden.
Die Bevölkerung blieb trotz aller Warnungen und trotz des Kampfes der Antifaschisten in Düsseldorf weitgehend taub und teilnahmslos.«
Dieser letzte Satz hatte sicher nicht nur für Düsseldorf seine Gültigkeit.
Der Krieg, den der deutsche Faschismus/Militarismus begonnen und der über 50 Millionen Tote gefordert hatte, war nun zu Ende.
Die Folgen, die Opfer und Wunden waren allgegenwärtig: Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus! Die Schuldigen müssen zur Verantwortung gezogen werden!
Aber wir mußten uns auch den Fragen stellen, was wir getan, geduldet oder aktiv mitgemacht hatten. Interessant war für mich, daß meine Verwandten und Bekannten immer wieder mitleidig fragten, wie die Russen uns behandelt hätten und nie auf den Gedanken kamen, die Frage nach den Ursachen der Gefangenschaft zu stellen. Bei aller Ungewißheit, bei allen Zweifeln mußten wir uns diesen Fragen, mußten wir uns der Geschichte stellen.
Das war die Situation, in der ich die Unsinnigkeit, ja die Gefahr, erkannte, die u.a. mit dem Gebet der Kirche, für den »Führer Schutz und Stärke« zu fordern, verbunden war.
Ein neuer Weg
In Düsseldorf-Eller lernte ich KPD-Genossen, anschließend in Moers und Neukirchen am Niederrhein Arbeitskollegen kennen, die Gewerkschafter und Antifaschisten waren.
Am 19. März 1947, zur Feier meines Namenstages, wurde ich in der Wohnung eines Genossen und FDJ-Freundes in die Freie Deutsche Jugend und die Kommunistische Partei Deutschlands aufgenommen.
Kurz danach habe ich eine zweite wichtige Lebensentscheidung getroffen. Im Mai 1947 habe ich die Flüchtlingsfrau aus Landsberg, die Kriegswitwe, geheiratet, die ihre Mutter und ihren dann sechsjährigen Sohn mitbrachte.
Jetzt waren andere, große Aufgaben zu lösen. Ich mußte eine Arbeit finden. Es begann in der Baustoffhandlung Gesell. Mit dem Wagen und zwei Pferden davor bin ich durch Düsseldorf gefahren, um Baustoffe auszuliefern. Bei der gleichen Firma ging ich als Holzfäller in die Eifel. Das war mit einem großen Vorteil verbunden, weil es dafür Schwerstarbeiterkarten, also mehr Brot und manchmal auch mehr Fleisch, gab.
1948:
FDJ-Gruppenvorstand Neukirchen-Vluyn
2. von links: J. M.
Dieser Eifeleinsatz hatte aber auch noch andere Folgen. Dort, wo wir für die Stadt Düsseldorf Holz schlugen, fanden wir