Habermas’ Überlegungen zur Macht in Faktizität und Geltung sind sowohl detaillierter als auch nuancierter als noch in der Theorie des kommunikativen Handelns. Dennoch hält er störrisch an der fragwürdigen These fest, dass die Systeme von Verwaltung und Wirtschaft gleichursprünglichen Status besitzen, und dass sich für beide abstrakte, koordinierende Medien (d. h. Macht und Geld) leicht identifizieren lassen.31 Im vorangegangen Abschnitt habe ich argumentiert, dass dieser Schritt teilweise durch eine hochgradig kontingente und tatsächlich auch kontroverse empirische These zum Kapitalismus der Gegenwart motiviert ist, derzufolge ökonomische und Klassenspannungen in das Verwaltungssystem und die Lebenswelt verlagert würden. Die Tatsache, dass Faktizität und Geltung weiterhin die Hauptpathologien heutiger Gesellschaften auf der Ebene gesetzlicher Regelungen ansiedelt, mag darauf hindeuten, dass Habermas an dieser Darstellung nach wie vor festhält. Zumindest wird sie an keiner Stelle des Buches revidiert.32
Auf der einen Seite bietet uns Faktizität und Geltung eine kraftvolle und in vielerlei Hinsicht prägnante Neuformulierung der Kritik der Verrechtlichung. Auf der anderen degradiert dieses Werk auf problematische und unvertretbare Weise den Status konventionell-linker Anliegen innerhalb kritischer Theorie – z. B. Klassenpolarisierung, wachsende soziale Ungleichheit und eine Unmenge damit verbundener ökonomischer und sozialer Missstände. Es überrascht daher nicht, dass Habermas’ Demokratie- und Rechtslehre zu diesen bedeutenden Themen, trotz ihrer Wichtigkeit für jüngste politische und gesellschaftliche Entwicklungen, letztlich wenig beitragen kann.
V.
Zweifellos bedeuten die von Habermas in Faktizität und Geltung vorgeschlagenen Rechtsreformen (d. h. sein prozessuales Alternativparadigma) einen großen Schritt nach vorne, verglichen mit den unterentwickelten Vorschlägen, die er im letzten Abschnitt der Theorie des kommunikativen Handelns andeutet.33 Es existieren stichhaltige Gründe für Rechtstheoretiker und andere, dieses Paradigma als Leitlinie anzunehmen. Sein größtes Verdienst liegt in dem Bestreben, der Abwertung öffentlicher Autonomie entgegenzuwirken, welche aus Habermas’ Sicht die Achillesferse des ›produktivistischen‹ Formal- und materialisierten Sozialrechts darstellt. Prozessuales Recht hat zum Ziel, »die private und öffentliche Autonomie der Bürger dadurch uno actu zu sichern, daß jeder Rechtsakt zugleich als Beitrag zur politisch-autonomen Ausgestaltung der Grundrechte […] verstanden werden kann« (FG, 494). Weder Formalrecht noch materialisiertes Recht müssten der Kolonialisierung durch Subsysteme unterworfen werden, und pathologische Formen der Verrechtlichung könnten erfolgreich umgangen werden. Prozessuales Recht könnte administrative Macht besser mit kommunikativer Macht verbinden, unter anderem durch eine umfangreicher als zuvor betriebene »Artikulation der Vergleichsgesichtspunkte und einer Begründung der relevanten Hinsichten, die von den Betroffenen selbst in öffentlichen Diskursen vorgenommen werden müssen« (FG, 513). Um es ganz einfach auszudrücken: Der Gesetzgeber würde zwischen konkurrierenden Formen gesetzlicher Regelung (inklusive denen des Formalrechts und des materialisierten Rechts) wählen, und dies »je nach regelungsbedürftiger Materie […]. Denn der reflexive Umgang mit alternativen Rechtsformen verbietet die Auszeichnung des abstrakten und allgemeinen Gesetzes […]« (FG, 528):
»Der reflexive Umgang mit Recht verlangt vom parlamentarischen Gesetzgeber zunächst Entscheidungen auf einer Metaebene – Entscheidungen darüber, ob er überhaupt entscheiden soll, wer an seiner Stelle entscheiden könnte und, falls er entscheiden will, welche Folgen sich für die legitime Verarbeitung seiner Gesetzesprogramme ergeben« (FG, 529).
Anders als in den Paradigmen des Formalrechts oder des Sozialrechts wird hier kein spezifisches Rechtsmodell begünstigt: Bürger und Gesetzgeber sind zur Deliberation über spezielle Regulierungsmaßnahmen ebenso verpflichtet wie zu Entscheidungen auf der Meta-Ebene über die optimale Methode, jene durchzuführen, ohne dabei Bürger auf passive Kunden zu reduzieren. Dies kann durch die Entscheidung für gewohnte Wege des Rechts (d. h. gesetzt und materialisiert) geschehen. Möglich ist aber auch – wie Habermas vorsichtig suggeriert – das Experimentieren mit anderen Mitteln.
Damit ist selbstverständlich noch lange nicht alles zum Thema des prozessualen Rechts gesagt. Trotz seines tatsächlich vorhandenen Potentials haben auch wohlwollende Leser kritische Fragen gestellt.34 In dem begrenzten Rahmen dieser Arbeit wende ich mich dabei nur einer der programmatischen Lücken zu.
Habermas vereinigt direkt die Möglichkeit der erfolgreichen Institutionalisierung des prozessualen Paradigmas mit der Aussicht auf eine Fortführung des Sozialstaates ›auf höherer Reflexionsstufe‹. Im Gegensatz sowohl zu Neoliberalen, die ihn ›abbrechen‹, als auch zu denjenigen Linken, die ihn auf herkömmlich staatszentrierten Wegen ausbauen wollen (und dadurch eine Verschärfung der privilegierten Stellung des Verwaltungssystems riskieren), glaubt Habermas, dass wir einen weiter entwickelten, ›reflexiven‹ Sozialstaat benötigen, in welchen das Verwaltungssystem durch »schonende Formen indirekter Steuerung« den Kapitalismus auf sozial und ökologisch feinfühligen Wegen umstrukturiert (FG, 410). Wie bereits in der Theorie des kommunikativen Handelns wird das Schicksal des Sozialstaates, wenig überraschend, unmittelbar mit der Möglichkeit einer alternativen Form gesetzlicher Regelung verknüpft. Ob wir den Kapitalismus humanisieren und eine ökologische Krise vermeiden können, hänge ebenfalls von der Erfüllung beider Aufgaben ab – vom Umbau des Sozialstaats wie von der Einführung des prozessualen Paradigmas.
Aus einer bestimmten Perspektive ist dies eine überaus vernünftige Haltung, welche diejenigen von uns, die Habermas’ intellektuelle Entwicklung seit Jahren und mit Bewunderung verfolgen, einnehmen können und sollten. Aus einer anderen Perspektive aber scheint etwas zu fehlen: Nicht nur offeriert uns Habermas kaum konstruktive Ideen, wie ein besserer Sozialstaat konkret aussehen könnte, geschweige denn, wie er auf die Beine gestellt werden könnte. Darüber hinaus können uns auch viele Schlüsselkonzepte seiner eigenen Theorie leicht dazu bewegen, konventionelle Inhalte der politischen Ökonomie zu ignorieren, die wesentlich sind für jeden ernsthaften Versuch, den Kapitalismus zu zähmen und den Sozialstaat zu bewahren. Nachdem er Kapitalismuskritik in neuartigem Ausmaß als Kritik der Verrechtlichung neu formuliert, und in der Folge die erstere zu Gunsten der letzteren regelmäßig vernachlässigt hat, gibt Habermas letztendlich implizit zu, dass kritische Theorie beide benötigt: Ohne eine aktualisierte kritische Theorie der politischen Ökonomie des Kapitalismus, mit der wir den zahlreichen Wegen, auf denen er Sozialpathologien generiert, gerecht werden, werden wir weder den Sozialstaat voranbringen, noch eine neue und potenziell überlegene Gesetzgebungs- und Rechtsreform institutionalisieren können.
Natürlich muss dies ohne einen Rückfall in grobschlächtigen Marxismus geschehen. Auch müssen wir vermeiden, die vielen fruchtbaren Einblicke in modernes Recht zu vernachlässigen, um die Habermas die kritische Theorie bereichert hat. Und dennoch: Eine substanzielle und facettenreiche Kapitalismuskritik – in Teilen inspiriert von traditionell-linker Theorie – darf uns bei unseren Bemühungen nicht abhandenkommen.35
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу