Es gibt also immer mehr Experten, und Experten müssen sich deutlich gegenüber Kunden und Kollegen positionieren, wenn sie sichtbar sein wollen. Inwieweit sind diese beiden Faktoren nun Markttreiber? Welche Prozesse stecken dahinter? Und wer auf dem Markt hat etwas davon?
Zunächst einmal gibt es hier zwei Märkte – den Markt im Sinne der Anbieter und den Markt im Sinne der Kunden, die beim Anbieter Produkte und Dienstleistungen kaufen. Der Kunde profitiert davon, wenn es Experten gibt und diese sich deutlich sichtbar positionieren: Er bekommt Orientierung, Transparenz und Überblick. Er erfährt schnell, welche Experten es zu dem Thema gibt, für das er sich interessiert, und was diese Experten ihm anbieten beziehungsweise was sie können. Er bekommt sein Problem zügig gelöst.
Aber auch der Experte kann sich schnell Orientierung verschaffen – nämlich darüber, wer auf demselben Gebiet Experte ist wie er selbst und wer das eigene Wissensfeld ergänzt, sprich: mit wem er als Experte zusammenarbeiten möchte und gegenüber wem er sich stärker abheben muss.
Das Mittel zu diesem Zweck ist wieder: der Fake. Er dient dem Experten dazu, sich seinen Kunden auch dann schnell sichtbar zu machen, wenn er noch ganz am Anfang seiner Karriere steht. Er hilft ihm außerdem dabei, sich von den Experten mit ähnlichem Spezialgebiet abzugrenzen und Kontakt zu denjenigen herzustellen, die sein eigenes Wissen sinnvoll ergänzen.
Vom Fake haben also beide Seiten etwas – Anbieter und Markt. Beide verschaffen sich Orientierung, Markttransparenz und Sichtbarkeit. Was im Ergebnis bedeutet: schnelle Problemlösungen. Und gerade Letzteres ist wichtig – angesichts der immer noch stattfindenden Wissensexplosion. Beim Fake geht es um zielgerichtete Kommunikation. Wenn ich richtig fake, werde ich gefunden, wenn nach mir gesucht wird. Gleichzeitig mache ich dem Abnehmer das Leben leichter, wenn ich für ein ganz bestimmtes Thema stehe und er nicht lange nach mir suchen muss. Alles ist eindeutig. Oder kämen Sie auf die Idee, für ein Candlelight-Dinner zu McDonalds zu gehen? Sehen Sie. Das ist der Vorteil einer eindeutigen Positionierung.
Dieses Sich-sichtbar-machen, die Positionierung unter Zuhilfenahme des Fakes, ist nicht nur für Selbstständige und Freiberufler wichtig. Menschen, die in Unternehmen angestellt sind, profitieren genauso davon. Auch sie wollen gesehen werden – von Vorgesetzten, Führungskräften, Kollegen, Kunden. Auch sie können ihre Expertise – also das Spezialgebiet, in dem sie sich profilieren wollen – durch den Fake aktiv beeinflussen. Sich die eigene Expertise bewusst zu machen und sinnvoll zu steuern, zu reflektieren und sich damit intensiv auseinanderzusetzen, sehr gezielt Energie zu investieren, um sich zu dem zu entwickeln, der man sein möchte – all diese gezielte Filterarbeit gegenüber dem vorhandenen und verfügbaren Wissen, die kein Abnehmer mehr ohne Hilfe der Anbieter bewältigen kann, gehört zur Kunst des Fakes. Wie Sie das konkret bewerkstelligen – dazu mehr im nächsten Kapitel.
DYNAMISCHER WISSENSTEPPICH
Wir haben schon festgestellt: Durch die Wissensexplosion entsteht gleichzeitig eine Expertenexplosion. Experten, wohin man schaut. Ein eng geknüpftes Netzwerk – so eng, dass man die Maschen mit bloßem Auge gar nicht mehr wahrnehmen kann. Mehr noch: Dieser Wissensteppich, das viele Wissen, ist nicht statisch. Es unterliegt einer unglaublichen Dynamik.
Dieser Dynamik hecheln wir als Experten hinterher. Wir müssen uns in dieser Flut von Information und Desinformation, unvorhergesehener Ereignisse und sich allmählich vollziehender Entwicklungen permanent neu verorten. Aus ihrem Expertenfeld andere, neue Felder machen, die besser zum Zeitgeist passen. Andere Akzente setzen, um in einer Welt voller Experten weiterhin wahrgenommen zu werden. Sich von einem Religionsexperten zu einem Nahostexperten zu einem IS-Experten entwickeln – um es mal an einem Beispiel festzumachen. Vor ein paar wenigen Jahren gab es noch keinen IS, aber nun gibt es ihn, und so ein Experte für Religionen des Nahen Ostens kann sich nicht auf seiner Expertise ausruhen, die er sich vor zwanzig Jahren einmal zugelegt hat. Als ich begonnen habe, als Berater im Gesundheitswesen zu arbeiten, war ich Experte für Prozesse. Danach kräht heute kein Hahn mehr. Später war ich Experte für Betriebsorganisation. Heute bin ich Experte für Strategie. Das Wissen dieser Welt verändert sich täglich, und die Experten müssen sich dieser Dynamik laufend anpassen, wenn sie noch etwas zu melden haben wollen. Oft auch dann, wenn die Veränderung sich weitgehend auf die Begrifflichkeit beschränkt. Denn eigentlich kann ein Experte für die Religionen des Nahen Ostens sicher sehr viel dazu sagen, wer der IS ist, was er will und wie es dazu kommen konnte. Nur will das eben niemand von ihm wissen, wenn er sich nicht eindeutig als IS-Experte ausweist.
Die Dynamik des Wissensteppichs ergibt sich aber nicht nur durch die Wissensexplosion – sie entsteht auch dadurch, dass sich für etliche Themen und Wissensgebiete einfach zu viele Experten am Markt tummeln. Das führt zu einer Experteninflation. Die Experten auf einem solchen Gebiet können sich dann nicht mehr so sichtbar machen, wie es für sie erforderlich ist, und müssen nach neuen Mitteln und Wegen suchen. Manchmal finden sie nur neue Namen für das, was sie sowieso schon immer getan haben – aber manchmal müssen sie sich komplett neu erfinden und ihre Expertise so verpacken, dass sie wieder marktkompatibel ist. Auch das funktioniert am besten mit der Methode des Fakes.
„Marktkompatibel“ heißt in diesem Fall, vom Markt wahrgenommen werden – denn darum geht es ja bei der bewussten Inszenierung des Fakes: sich im Markt mit einer bestimmten Expertise, einem bestimmten Angebot sichtbar zu machen. Dabei muss man sich eines immer vor Augen halten: „Der Markt“ ist ein sehr kapriziöses Wesen. Seine Aufmerksamkeitsmechanismen sind launisch und unkalkulierbar.
Warum wurde beispielsweise Paypal, die Experten-Mafia, weltweit so erfolgreich, dass sie es sogar an den Anfang dieses Kapitels geschafft hat? Das amerikanische Online-Bezahlsystem hatte bei seiner Einführung durchaus eine solide Existenzberechtigung in den USA – weil dort Überweisungen von einem Bundesstaat in den anderen verboten waren. Am deutschen Markt und vielen anderen hingegen gab es für das eigentliche Dienstleistungsmodell schon längst eine Lösung: den bargeldlosen Zahlungsverkehr über Lastschriftverfahren abzuwickeln, gehört seit vielen Jahren zum Standard. Trotzdem gelang es Paypal, sich über seine Positionierung – als „guter Freund“ für alle Bezahlsituationen – sehr erfolgreich auch auf dem deutschsprachigen Markt zu etablieren und zu behaupten. Es ist für uns eigentlich ein überflüssiges und ineffizientes System, das überdies völlig unnötig Intermediäre reich macht. Eigentlich. Wahrnehmung und Aufmerksamkeitsmechanismen des Marktes haben dafür gesorgt, dass es trotzdem funktioniert. Und wie.
Je stärker die „Attention Economy“ (Aufmerksamkeits-Wirtschaft) unseren Markt bestimmt, desto attraktiver muss sich ein Experte machen, um in der Expertenschwemme überhaupt noch die nötige Aufmerksamkeit zu bekommen – selbst wenn andere Experten oder andere Lösungen substanziell betrachtet besser dafür in Frage kämen. Paypal hat das sehr gut gemacht. So gut, dass wir auch hierzulande ein System benutzen, das wir eigentlich gar nicht brauchen.
SPEZIALISIERUNG ALS ÜBERLEBENSSTRATEGIE
Um es noch einmal zusammenzufassen: Die Wissens- und Informationsexplosion kann mich als Experten vernichten. Ich überlebe nur, wenn ich dem etwas entgegensetze. Also spezialisiere ich mich. Das ist meine Strategie, mit der ich der Wissensexplosion begegne. Schließlich habe ich existenzielle Bedürfnisse: Ich muss meinen Lebensunterhalt verdienen! Und auch psychisch und sozial als Marktteilnehmer überleben. Gefühle von Ohnmacht und Kontrollverlust sind der ohnehin überforderten Seele nicht gerade zuträglich. Wenn ich also nicht verzweifeln und mich in dem oft genug undurchschaubaren und hyperdynamischen Wissensteppich als Experte und Dienstleister positionieren will, greife ich auf den Fake zurück. Gerade weil ich (noch) viel zu wenig weiß, tue ich so, als wüsste ich mehr. Ich suche meine Position auf dem Spielfeld. Und schaue in die Welt, als hätte ich immer noch einen Trumpf im Ärmel.
Übrigens: Es gibt noch einige wenige Positionen, die unter den vielen Experten und Dienstleistern nicht durchgängig besetzt sind – die der Meta-Berater. Ja, Sie haben richtig