Dabei setzt die Ministerin darauf, dass das sichere Risiko, im Alter garantiert noch viel schlechter über die Runden zu kommen als jetzt, für den nötigen Anreiz zum zusätzlichen Sparen sorgt. Andererseits ist auch der Ministerin bekannt, dass die Alternative, für den möglichen Vorteil – ein wenig mehr Geld im Alter – den sicheren Nachteil – noch weniger Geld jetzt – in Kauf zu nehmen, der Grund dafür ist, dass „längst nicht alle im Land“ eine private Alterszusatzvorsorge betreiben. Deswegen schlägt sie zusammen „mit Kollege Schäuble“ zahlreiche „deutliche Verbesserungen“ für solche Geringverdiener vor; die lassen sich allerdings angesichts aller möglichen Rechtsfolgen, die sich aus der Einführung der Betriebsrente für Steuern und sonstige Beiträge zu und Ansprüche an andere Sozialversicherungen ergeben, gar nicht so leicht herbeiregieren. Für den Gesetzgeber stellen sich nämlich lauter Fragen: Sind die Einzahlungen in die Betriebsrente steuerpflichtig und/oder die Auszahlungen? Wie ist es mit Sozialabgaben darauf? Wie sind die lohnabhängigen Beiträge in die Krankenkasse zu berücksichtigen? Inwieweit bewirkt ein Eingriff an einer Stelle möglicherweise missliebige Folgen an anderer Stelle?
Es ist offenbar gar nicht so leicht, zusätzliche Summen aus einem Lohn herauszuwirtschaften, der erstens nicht steigen darf und zweitens schon dermaßen verstaatlicht ist, also längst für den Erhalt der ganzen Klasse der Lohnabhängigen gestreckt wird. Das weckt allerdings das Verantwortungsbewusstsein von Sozialpolitikern umso mehr; es beflügelt sie zu immer neuen Reformkunststücken, auf deren Wirkungen sie wiederum ein Auge behalten müssen. Die Kollegen für Soziales in der Großen Koalition sind sich jedenfalls sicher, die richtigen Antworten auf diese rechtlichen und finanziellen Fragen gefunden zu haben, so dass sich für die Arbeitnehmer lauter kleine Mini-Hebel ergeben, die sich an der trostlosen Entscheidung über Haben und Nichthaben von Cent-Beträgen ansetzen lassen: Der Lohnanteil, den der Arbeitnehmer in die Betriebsrente steckt, wird von Steuern befreit; der Beschäftigte kann also ausrechnen, um wie viel größer der jetzt eingesparte Steuerbetrag im Vergleich zum Betrag ist, der später fällig wird, falls die Betriebsrente zu einem höheren Einkommen führt. Die Abgabefreiheit wird von vier auf acht Prozent der Beitragsbemessungsgrenze erhöht, also kann man statt bisher ca. 3000 Euro nun ca. 6000 Euro steuerfrei einzahlen – ein echter Vorteil für den Geringverdiener, sofern er so viel Geld übrig hat. Immerhin wird der Lohnanteil, der in die Betriebsrente eingezahlt wird, von Sozialabgaben befreit; das verringert allerdings den Bruttolohn – auch um den Anteil des Arbeitgebers –, sodass weniger Sozialabgaben einbehalten werden; das verringert aber wiederum die Ansprüche auf Zahlungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Für den verantwortlichen Geringverdiener steht also die Frage an: Ist die Einsparung größer als der Verlust? Wird der Verlust durch die Betriebsrente kompensiert? Gleiches gilt für die Zahlungen aus der Arbeitslosenversicherung; bei seinem Kampf um einstellige Eurobeträge darf der Beschäftigte mit seinem niedrigeren Bruttolohn daher nicht vergessen, dass auch sein Anspruch auf Arbeitslosengeld kleiner wird. Und laut dem Gesetzgeber müssen natürlich auf jeden Fall auch noch Krankenkassenbeiträge von der Betriebsrente erhoben werden, schon allein wegen der Generationengerechtigkeit.2) Dafür beseitigt das Gesetz eine bis dato existierende ‚Gerechtigkeitslücke‘, indem es den Unternehmern etwas nimmt, ohne sie ungebührlich zu schädigen: Was diese durch die Verringerung des Bruttolohns an Sozialabgaben einsparen, dürfen sie zukünftig nicht mehr, wie bislang vielfach praktiziert, einfach einbehalten, sondern müssen sie in die betriebliche Alterssicherung abführen. Diesen Betrag kann der zukünftige Rentner schon mal als den Grundstock einer Altersrente verbuchen.
Und noch ein ganz besonderes Zuckerl hält das neue Gesetz für die ‚Geringverdiener‘ bereit:
„Dieser Schritt ist wirklich ein historischer Schritt. Das hat es noch nie gegeben. Es bestand gerade für Geringverdiener ein großes Hemmnis. Viele haben ja gesagt: Ich weiß gar nicht, ob ich im Leben so viel verdiene, dass ich am Ende über die Grundsicherung komme. Warum soll ich jetzt in die private Rente oder in die Betriebsrente einzahlen? An dieser Stelle sagen wir jetzt: Ihr könnt, egal wie eure Erwerbsbiografie am Ende verlaufen ist, rund 200 Euro behalten.“ (Nahles vor dem Bundestag, 10.3.)
Mit diesem „historischen Schritt“ springt die Ministerin über ihren Schatten: In den Fällen, in denen die gesetzliche Rente unterhalb des gesetzlichen Existenzminimums liegt, verzichtet sie glatt darauf, die privat angesparte Rente komplett einzubehalten. Großzügiger geht es kaum. Kaum zu glauben, dass sie sich immer noch nicht darauf verlassen will, dass die dermaßen verwöhnten Geringverdiener dieses Rentengeschenk von sich aus annehmen – jedenfalls hilft sie der Entscheidung des Arbeitnehmers für oder gegen Altersvorsorge noch einmal kräftig nach: Durch das Tarifvertragsmodell ist der mit einem Zusatzrentenangebot Beglückte automatisch an der Betriebsrentenabmachung beteiligt und muss der tarifvertraglichen Regelung selbst aktiv widersprechen, wenn er sich ihr entziehen will. Dazu ist er aber glatt immer noch berechtigt! Eine durchaus gelungene Kombination aus Zwang zur Solidarität und Schutz der Freiheit – in der deutschen sozialen Marktwirtschaft 2017 kann man einfach alles haben.
1) Viele besonders kapitalkräftige Großkonzerne bieten ihren Beschäftigten eine betriebliche Rente als Bonus, um sie langfristig an die Firma zu binden. Diese freiwillige Aufstockung des Lohns, die nie die Qualität einer allgemein verbreiteten Altersvorsorge erreicht hat, wird von dem neuen Gesetz nicht tangiert. In diesem geht es vielmehr darum, das bereits seit Jahren vorwiegend praktizierte Modell der ‚Entgeltumwandlung‘ vor allem in ‚kleinen und mittleren Betrieben‘ zu etablieren.
2) „Die Verbeitragung von Versorgungsbezügen aus Betriebsrenten ist ein unverzichtbarer Bestandteil für eine solidarische und nachhaltige Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung und für einen ausgewogenen Ausgleich zwischen der Förderung der bAV [der betrieblichen Altersvorsorge] und der Generationengerechtigkeit der GKV.“ (24.2.17, Stellungnahme der Bundesregierung zu Anfragen des Bundesrats)
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Chronik (4)
Das ‚Potsdamer Modell‘ der IG BCE und die Ausdehnungsvereinbarung der IG Metall in Sachen Zeitarbeit:
Kleine aber feine Fortschritte deutscher Tarifpolitik
Das ‚Potsdamer Modell‘
Ein gutes Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung hat sich die IG BCE ein hohes tarifpolitisches Ziel gesetzt, nämlich die Angleichung der Regelarbeitszeit in der ostdeutschen Chemie-Branche von 39 Stunden auf das West-Niveau von 37,5 Stunden, und das bei vollem Lohnausgleich. In diesem Unterschied zwischen Ost und West macht sie den entscheidenden Grund dafür dingfest, dass im Osten die Chemie nicht stimmt. Im Mai 2017 ist es dann nach insgesamt zweijährigen Verhandlungen endlich so weit, in Potsdam werden alle Ziele „zu 100 % erreicht“ und die IG BCE kann in ihrer Kampagnenzeitung frohlocken: „90 Minuten mehr Freizeit: Jetzt stimmt die Chemie!“
Eine einzige Erfolgsgeschichte also. Abhaken muss man dafür nur, dass zum einen eine derart aus dem Rahmen fallende Errungenschaft hier und heute nicht anders zu haben ist denn in Gestalt der Aussicht auf ihre Umsetzung in realistischen Drittelportionen von 2019 an, bis in sechs Jahren dann die Chemie endgültig stimmt: „2023: In diesem Jahr wird der letzte materielle Unterschied zwischen den Beschäftigten der Chemie in Ost und West wegfallen.“ Und zum anderen darf man die „90 Minuten mehr Freizeit“ keineswegs damit verwechseln, dass 37,5 Stunden von 2023 an so etwas wie eine Regelarbeitszeit wären. Das hieße nämlich, die Verfügbarkeit ostdeutscher Chemie-Arbeitskraft zu beschränken, und dazu hat der Verhandlungsführer der Gegenseite gleich zu Beginn das Nötige klargestellt: „Wenn alle weniger arbeiten, bräuchten wir auf einen Schlag mehr Arbeiter, wo sollen wir die herbekommen?“ (Thomas Naujoks, rbb-online.de, 21.11.16) Diese Sorge erspart das ‚Potsdamer Modell‘ den Arbeitgebern mehr als gründlich, indem es gleich