Eine neue verbindliche Regel wurde eingeführt: „Wer schlägt, der fliegt.“ Sie bedeutete für einen Patienten, der gewalttätig geworden war, dass er in den Wachsaal auf eine andere Station verlegt wurde, wo er so lange bleiben musste, bis der Vorfall in Ruhe geklärt worden war. Das war einerseits eine Strafe und signalisierte klar, dass die Regelverletzung nicht toleriert wurde. Andererseits blieb so auch Zeit für eine diagnostische Klärung mit entsprechenden therapeutischen Konsequenzen. Hatte der Patient eventuell Stimmen gehört oder stand unter dem Einfluss einer krankhaften Idee? Waren Medikamente sinnvoll? Diese Regelung bewirkte eine Beruhigung und deutliche Abnahme von Gewaltausbrüchen.
War jemand vom Pflegepersonal gewalttätig geworden, wurde er sofort und ohne weitere Diskussion von der Station entlassen.
Alle, die dort arbeiteten, engagierten sich so gut sie konnten für die Verbesserung der psychiatrischen Versorgung. Sie lernten Geduld und Toleranz für das oft skurrile, manchmal bedrohliche, meistens unverständliche Reden und Verhalten der Schizophrenen und geistig schwer Behinderten, von denen einige auf der Station geblieben waren. Die Schwestern erfuhren, dass Kontinuität, Verlässlichkeit und Klarheit die Verwirrung der PatientInnen mildern konnte, und erlebten die Beziehung zu ihnen als interessante Beschäftigung, im glücklichen Fall als Bereicherung.
Nach 1968 entstand in der BRD im Zusammenhang gesellschaftlicher Veränderungen eine psychiatriekritische Bewegung. Auf breiter Ebene bildeten sich Initiativen, die in der Regel gegen ein rein somatisches Krankheitsverständnis, gegen ausschließlich medikamentöse Behandlung, vor allem auch gegen die Elektroschockbehandlung eintraten, stattdessen mehr Verständnis und Unterstützung für psychiatrische PatientInnen forderten, am radikalsten das „Sozialistische Patientenkollektiv“, später die „Irrenoffensive“. Die Sozialpsychiatrie entstand mit Zeitschriften und Publikationen, am bekanntesten der Titel „Irren ist menschlich“ (Dörner / Plog).
Es setzte auch, sehr zaghaft zunächst, die Auseinandersetzung mit der Psychiatrie im Nationalsozialismus ein. Die „Euthanasie“ hatte vor allem, und das wurde am wenigsten in Frage gestellt, die Ermordung chronisch psychisch Kranker und Behinderter zum Ziel gehabt. Dass erst 2014 ein Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde eröffnet wurde, der das bis dahin vorhandene unauffällige Schild ersetzt, zeigt, wie vernachlässigt diese Menschen immer noch sind.
Zu einem Ideal der psychiatriekritischen Bewegung wurde Franco Basaglia, als er 1978 in Italien die Schließung der Irrenanstalten erreichte, ein radikaler und mutiger Schritt. Schon Wilhelm Griesinger hatte 1872 gefordert, die akut psychisch Kranken müssten in gut erreichbaren städtischen Krankenhäusern behandelt werden, während die chronisch Kranken aus dem Krankenhaus befreit und in einer natürlichen Umgebung, der Familienpflege, versorgt werden müssten. Wie weitsichtig diese Reformvorstellung war, zeigte sich 1978 in Italien. Die Chroniker waren zwar befreit aus den Kliniken, aber auch alleingelassen und unfähig, ohne beschützende Umgebung zu überleben. Sie hatten kein Einkommen, waren obdachlos und wurden als hilflose Personen in andere soziale Einrichtungen gebracht, in denen sie oftmals schlechter lebten, als zuvor in der Psychiatrie.
Der Bundestag veröffentlichte 1975 die Psychiatrie-Enquete, in der die Mängel der psychiatrischen Versorgung umfassend erfasst wurden. Ihr folgte ein „Bundesmodellprogramm“, von dem einige psychiatrische Institutionen profitierten, unter anderen auch, in geringem Ausmaß, die in diesem Buch beschriebene Station 13.
Für alle daran Beteiligten war die Arbeit eine wertvolle Erfahrung. Für die Psychiatrie insgesamt nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.
LOOHOOS, GÜHÜNTZEHELI
Je näher sie dem Krankenhaus kam, desto langsamer fuhr Barbara, um den Arbeitsbeginn wenigstens um einige Minuten hinauszuzögern. Sie war genervt von einem Ohrwurm, einem alten Gassenhauer, den sie schließlich sogar laut vor sich hinsang: „Zickenschulze aus Bernau, nahm sich schon die achte Frau.“
Dieses Lied hatten die Patienten während des Sommerfestes immer wieder hören wollen, einige hatten dazu getanzt, andere begeistert mitgesungen.
‚So ein Quatsch‘, dachte Barbara und unterbrach ihr Singen, ‚vielleicht die sechste oder die fünfte, höchstens die vierte Frau, aber ist doch auch ganz egal.‘
Sie ärgerte sich über den blöden Schlager und spürte deutlich, dass sie Angst hatte. Angst, dass auf der Station wieder irgendetwas passiert war, eine Schlägerei vielleicht, ein bedrohlicher Ausraster oder ein beängstigender Zusammenbruch.
Kaum hatte sie die Station betreten, wandte sich Schwester Kim, eine Koreanerin, ihr höflich lächelnd zu.
„Herr Leissner hat schon wieder einen Sessel aus dem Fenster geworfen. Der liegt jetzt kaputt auf dem Rasen vor dem Fenster.“
Gesehen hatte ihn allerdings niemand dabei, geredet hatte darüber auch noch niemand mit ihm. Alle versuchten, ihrer Angst auszuweichen, indem sie Kontakt mit ihm vermieden, taten so, als sei nichts Besonderes geschehen. Schwester Kims Lächeln entsprach ihrer koreanischen Höflichkeit, schien Barbara aber heute auch wie die fest zementierte Abwehr ihrer Gefühle. Obwohl sie meistens einen sehr guten, beruhigend wirkenden Kontakt zu Herrn Leissner herstellen konnte, hatte sie heute noch nicht mit ihm gesprochen.
Barbara seufzte leise, ging dann langsam zu Herrn Leissner. Der saß ruhig rauchend in einem Sessel und blickte aus dem Fenster. Ob er tatsächlich den Sessel aus dem Fenster geworfen hätte und warum eigentlich? Ob er sich über irgendetwas geärgert hätte?
Herr Leissner antwortete nicht, drehte den Kopf kommentarlos weg. Zu seiner Art, aggressiv zu sein, passte das, zu seiner Art, Rätsel aufzugeben, vielleicht auch. Oberflächlich betrachtet schien er sie einfach nicht zu beachten. Während alle das Gefühl hatten, er säße auf einem hochexplosiven Pulverfass, wirkte er selber gleichzeitig völlig ruhig und entspannt. Um durch weitere Nachfragen keine Lunte zu legen, ließ Barbara ihn allein.
„Die Chinesen klauen jetzt auch schon Radios“, schrie Herr Tuschewski gleich mehrmals empört und murmelte dann wütend vor sich hin. Er drohte Schwester Kim mit geballten Fäusten, lief erregt vor dem Dienstzimmer hin und her. Niemand ging auf sein Schimpfen ein, es blieb unverständlich.
Währenddessen kam der Oberarzt Herr Dr. Kinkelmüller tänzelnd und Zigarre rauchend in das Dienstzimmer und desinfizierte sich die Hände, was er gerne tat, auch wenn es gar keinen Grund dafür gab. „Unseren besten Arztdarsteller“ nannten die Kollegen ihn heimlich. Der dicke Mann trug einen modernen, halblangen Arztkittel (Synthetik, kein Leinen), aus dessen Brusttasche immer ein Stethoskop ragte, das zu benutzen er allerdings niemals Gelegenheit hatte. Er streute gerne lateinische Brocken in seine Rede ein, etwa „sine effectu“, wenn ein Medikament sich als wirkungslos erwies.
Jovial wandte er sich jetzt an Barbara. „Sie parken auf meinem Parkplatz, aber heute geht das ausnahmsweise.“
Er ging schnell wieder, nicht, ohne Barbara kurz galant zuzuwinken.
Barbara lächelte zurück, erleichterte Dankbarkeit mimend. Wenn sie zu spät dran war, stellte sie sich oft auf Kinkelmüllers Parkplatz, weil er näher an der Station lag, als die anderen. Sie verachtete im Grunde seine Freundlichkeit, weil sie darin nur eine Unfähigkeit, sich durchzusetzen, und seine uneingestandene Hilflosigkeit sah. Sie versuchte einfach, ihn möglichst nicht zu beachten. Das machte ihr gleichzeitig ein schlechtes Gewissen.