Chas’ Hand war von ihrem Haar verschwunden. Sie drehte den Kopf, um festzustellen, dass er noch immer neben ihr saß. Auch er war wach. In den Händen hielt er die Bibel, die Edmund ihnen beim Abschied geschenkt hatte. Die Bibel, mit der alles begonnen hatte, wegen derer Mira zur Diebin und zur Verräterin geworden und zu den Fischerkindern gekommen war.
Einem plötzlichen und heftigen Impuls folgend, streckte Mira die Hand aus und legte sie ebenfalls auf das raue Leder des Buches.
Überrascht sah Chas auf, zog seine Hand jedoch nicht weg.
„Wer weiß, wie viele nun noch übrig sind“, flüsterte Mira. „Vielleicht ist es das letzte.“
„Darüber habe ich auch gerade nachgedacht.“ Chas’ Stimme klang rau. Ob er die ganze Nacht wach gelegen hatte? Mira musterte sein Gesicht. Die blasse Haut, die unansehnlich lang gewordenen Bartstoppeln, die dunklen Schatten unter den karamellfarbenen Augen.
„Eine Welt ohne Bücher“, sagte sie leise, und der bloße Gedanke beschwor eine tiefe, fassungslose Leere in ihr herauf.
Aber Chas’ Züge hatten sich verhärtet. „Ein Land“, berichtigte er. „Es ist nur dieses verfluchte Land, das verrückt spielt. In Amerika … wenn ich erst dort bin …“ Er verstummte.
„Am liebsten würde ich mitkommen.“
Chas’ Augen fanden die ihren und hielten ihren Blick fest. „Dann komm mit.“
Einen wunderschönen, süßen Moment lang erlaubte sich Mira, es sich vorzustellen. Ein fremdes Land ohne Justizstaatsbeamte und Mauern, ohne hungernde Außenbezirke, heimliche Versammlungen und Angst vor dem Entdecktwerden. Dafür mit der Freiheit, zu gehen, wohin sie wollte, zu denken und zu sagen, was ihr in den Sinn kam, mit einem sicheren Zuhause für sie alle und mit Büchern. Und Chas.
„Filip“, presste sie jedoch über die Lippen. „Zuerst müssen wir Filip helfen.“
„Ja“, erwiderte Chas, und das knappe Wort sagte mehr als das. Als ahne er, dass Mira, wenn sie Filip erst befreit hatten, niemals mit ihm nach Amerika kommen würde. So einfach war es immerhin nicht.
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