Stefan hatte mir nach dem Tod von Jüttes Mutter am nächsten Morgen einfach seinen Wohnungsschlüssel in die Hand gedrückt, mit der Bitte, mich um seine Post und Pflanzen zu kümmern, war er mit einem großen Rucksack verschwunden. Ich hatte mich sehr darüber gewundert, da wir uns gar nicht richtig kannten.
»Hab damals noch die ganze Nacht bei dem Typ verbracht, der heißt übrigens Franz, wie ich mühsam rausbekam. Abwechselnd presste der sich heulend an mich, um sich dann fast im gleichen Moment wieder an irgendein Bild von seiner Mutter zu klammern und dieses, fast schon tierisch, abzuküssen. Irgendwie krankhaft ist dieser Typ. Konnte zwar seine Trauer verstehen, aber was der da abzog, war einfach zu übertrieben. Ich war vollkommen verstört am nächsten Morgen!«
Das konnte ich nur bestätigen, als mir Stefans bleicher Anblick von diesem erwähnten Morgen und seine fast fluchtartige Abreise in den Sinn kamen.
»Was ist denn hier passiert?«, kam es fast erschrocken aus Stefans Mund. Mit ungläubigen Blicken streiften seine Augen durch meine Küche. »Warst ja echt fleißig während meines Urlaubs, kann man ja fast als Wohnung bezeichnen, was ich hier so erblicke.«
»Komm mit Stefan, willste mal meine Ausbauhöhle begutachten?« und ich schob Stefan Richtung mittleres Zimmer, welches ich mir als Wohnzimmer auserkoren hatte.
»Ungewohnt, aber einfach cool«, lachte Stefan, als er die mitten im Zimmer stehende gläserne Duschkabine sah, welche ich mit großen Ficus Bäumen ringsherum dekoriert hatte.
»Das hast du allein hingekriegt? Glaub ich nicht!« grinste Stefan, als er meinen verbundenen Kopf und die schon leicht verschmutzten massenhaften Pflaster auf meinen Händen ansah.
»Nein, mit meinem Kumpel Fred, kennste doch, der mir beim Einzug mit geholfen hat. Der kann so etwas besser als ich. War die ganze Zeit nur der Handlanger. Ist eigentlich auch besser so für mich …« und lächelnd präsentierte ich Stefan meine ziemlich demolierten Hände.
»So eine Dusche mit Ficus Bäumen ringsherum, mitten im Zimmer stehend, habe ich bei meiner neuen Bekannten Claudia gesehen.« ›Dass es keine Duschkabine, sondern ein riesiger Whirlpool war, braucht ja Stefan nicht zu wissen … und auch alles andere nicht‹, grinste ich vor mich hin.
»Kann mich nur wiederholen, einfach sau cool, habt ihr wirklich toll hingekriegt« und seine Blicke schweiften weiter im Zimmer umher. An den Wänden hatten wir nur teilweise die alten Tapeten entfernt, einfach abgerissen, was lose war und so waren jetzt die verschiedenen Stilepochen bunt nebeneinander zu sehen.
»Hier, schau mal!« und ich wies auf die Stelle über meinem alten Sofa. »Das gefällt mir besonders gut« und ich zeigte Stefan stolz das Wandstück, wo man noch den Inhalt von alten angeklebten Zeitungen aus dem 19. Jahrhundert richtig gut lesen konnte.
»Könnte mir auch gefallen«, kam es bewundernd von ihm. »Ich liebe auch so verrückte Dinge. Passt aber auch sehr gut zu dir. Als ich dich zu ersten Mal gesehen hatte, dachte ich mir gleich, du bist ein schräger Typ.«
»Aber komm, darf ich dir mein Spielzimmer zeigen, hoffe ja, dass irgendwann mal wieder ein weibliches Wesen bei mir auftaucht« und ich ging mit Stefan in das Nachbarzimmer. Hier begrüßten ihn helle, lindgrüne Wände. Das ganze Zimmer war komplett mit einem dicken, weißen und sehr flauschigen Teppich ausgelegt. Wahllos lagen kuschelige Kissen herum, in der hinteren Ecke stand ein sehr preiswert erworbener Fernseher. Da sein schwarzes Plastikgehäuse mich irgendwie störte, hatte ich ihn spontan mit Goldlack gestrichen, mit dessen Resten ich heute noch den alten Wäschetrockner verschönert hatte.
»Echt abgefahren, aber wenn ich ehrlich sein soll«, lachte Stefan, »irgendwie ‘n bissel komisch, fast schon ein wenig schwuchtelig.«
Da konnte ich ihm hundertprozentig Recht geben. Stefan brauchte nicht zu wissen, dass Claudi – wir verstanden uns mittlerweile toll, waren auch ohne Sex richtige Freunde geworden – mich bei der Einrichtung dieses Zimmers beraten hatte. Ich wusste einfach nicht so recht, was ich mit diesem dritten Zimmer anfangen sollte. Meine Beziehungsüberreste aus der Zeit mit Anja waren schon äußerst sparsam in den anderen beiden Zimmern von mir verteilt worden und ich war vollkommen ratlos, was ich hier reinstellen sollte.
»Und hier schlafe ich!« und ich ging Stefan voraus in mein Schlafzimmer. Der Erb-Oma-Spiegel, natürlich gewissenhaft von Anjas Lippenstiftmalereien und den sonstigen Flecken meiner spontanen Lust vom ersten Abend gesäubert, hatte bereits einen Ehrenplatz erhalten. Er stand genau gegenüber von meinem provisorischen Bett, einer großen, quadratischen, preiswerten Matratze. In der Ecke hatte ich meinen Sand neu aufgehäuft und mit einer Bananenpflanze gekrönt. Die erträumte Palme war mir derzeit einfach zu teuer.
Als Stefan den am Boden liegenden, verknäulten Wäschetrockner sah, zeigte er höhnisch fragend auf meinen Kopf.
»Ja, es tut richtig weh …«
»Komm, den bauen wir noch schnell richtig an, aber dann muss ich meine Bude etwas entkeimen. Habe auf meiner Urlaubstour eine echt heiße Braut kennengelernt. Mit einem kleinen spanischen Einschlag, auf so etwas stehe ich einfach … Wenn ich großes Glück hab, bringt sie auch noch ihre Schwester mit, die machen vieles gemeinsam, hat sie so gemurmelt. Bin schon ganz verrückt bei der Vorstellung, dass sie mit gemeinsam das meint, was ich mir darunter vorstelle …«
Nach nicht mal zehn Minuten war mein Wäschetrockner so angeschraubt, dass er sogar immer noch fest in der Wand verankert, den Abriss dieses Hauses überleben würde. Ich staune immer wieder, wie so was eigentlich geht.
»Paul, Kompliment, kann ich da nur sagen, würde hier sofort selbst einziehen. Dein Schwuchtelzimmer würde ich einfach ‘n bissel anders anmalen, dann wäre es auch für mich perfekt. Macht einfach was her! Deine Damen, die du hier bestimmt mal verwöhnen wirst …«, grinste Stefan, »… werden Augen machen. Also Atzsche Paul, bis bald!« und er ging, immer noch staunend um sich blickend, in seine Wohnung zurück.
›Atzsche Paul?‹, klang irgendwie komisch, aber es passte zu Stefan, der gebrauchte manchmal andere Worte, als die, die gerade so angesagt waren, bekam ich langsam mit.
Mein Frühstück vor einigen Stunden, ein halbes hartes Brötchen und zwei sich schon rollende Scheiben vertrockneten Käses, war recht spärlich ausgefallen. Schon rein aus Bestandsgründen meiner Höhle konnte ich nie viel einkaufen, so ein bissel Vorrat, ein Kühlschrankkauf musste einfach warten, bis wieder mal mehr Geld mein Konto begrüßen durfte. Hatte bei Anja in einem goldenen Käfig gelebt, fast bis zum Schluss hatte sie viele Kosten für mich mit übernommen, immer in der Hoffnung, dass sich doch irgendwann mein musikalischer Erfolg einstellte. Von den anderen sehr erfolgreichen Fähigkeiten aus meinem früheren Leben wollte ich aber einfach nichts mehr wissen. Anja hatte immer wieder versucht, da es mit der Musik nicht so richtig klappen wollte, mich zu überreden, einen Neustart zu wagen, da ich auf diesem Gebiet wirklich sehr gut war. Aber es war damals einfach zu blöd für mich gelaufen, es brauchte noch einige Zeit, alles zu verarbeiten …
Vor fast zehn Jahren hatte ich mich versucht, mit einer Werbeagentur selbstständig zu machen. Da ich aber nichts mit dem ganzen Schriftkram und üblen Notwendigkeiten wie Finanzamt und anderen nervtötenden Einrichtungen am Hut haben wollte, suchte ich mir dazu einen Geschäftspartner. Ich wollte einfach nur kreativ und in der großen weiten Welt der Werbung unterwegs sein. In meiner Zeit als freier Grafiker hatte ich öfter Kontakt mit einem Manager, den ich mir in dieser Funktion und als Geschäftspartner gut vorstellen konnte. Er sagte damals sofort zu, da auch er sich gerade verändern wollte.
Nach anfänglich harten Monaten gewannen wir in einem Pitch, als Newcomer gegen viele große renommierte Agenturen, den Etat einer riesigen überregionalen Marke. Ich fühlte mich damals wie im Zauberwald. Nach diesem Etatgewinn ging es Schlag auf Schlag weiter und wir wurden zu einer der gefragtesten und kreativsten Werbeagenturen im Land. Ich, der immer so lebenslustige Paul, der nie jemandem so richtig böse sein konnte, musste auf einmal Chef spielen lernen,