Nein, das lag außerhalb Fiallas Befehlsgewalt. Die reichte jedoch, den Bauern in einem dröhnenden Sermon das Ungesetzliche und darüber hinaus grenzenlos Unüberlegte ihres voreiligen Handelns vor Augen zu führen. «Also, wer hat die Leiche nun gefunden?», donnerte er am Schluss seiner Ausführungen.
Wieder Schweigen. «Der kleine Gunther war’s», quäkte schließlich der Postbote, der nie den Mund halten konnte. «Der hat ihn von Anfang an im Rauber gesucht.»
«Und weshalb habt ihr ihn nicht an Ort und Stelle liegen lassen, bis der zuständige Beamte …» Er machte eine lange Pause, dehnte sie geradezu ungebührlich aus. «… aus Penig ihn in Augenschein genommen hat?»
«Aus Penig?», fragte sofort der alte Marquardt über das Gemurmel hinweg. «Der Ferdinand ist hier im Dorfe daheim.»
Fialla, der die Pelerine abgelegt und sein Notizbuch hervorgebuddelt hatte, sah sich streng um. «Seine Leiche lag in Sachsen. Punktum. Also sind die dort drüben zuständig.»
«Das könnte dir so passen, Kugelblitz!», sagte eine verächtliche Stimme aus dem Hintergrund. Der Mann gab sich nicht einmal Mühe, leise zu sprechen oder sich zu verstecken.
Fialla kannte das schon. Frecher Widerspruch begegnete ihm nicht zum ersten Mal. Bis vor ein paar Jahren wäre eine solche Unverschämtheit einem herzoglichen Beamten gegenüber weder möglich gewesen noch ungesühnt geblieben. Heute zog er es vor, darüber hinwegzuhören, ja gewissermaßen sogar klein beizugeben, indem er beinahe höflich hinzufügte: «Das ist sozusagen der amtliche Standpunkt, versteht ihr?»
«Greif du lieber den Mörder!», forderte die gleiche Stimme. Sie gehörte dem Hainich-Diethmar, keinem der ganz Kleinen im Dorf und Kirchenvorsteher noch dazu. Ein Mann, der gerne widersprach und überdies mit den Gesetzen mindestens so gut vertraut war wie Fialla selber. Vermutlich sogar besser.
Dem blieb nichts anderes übrig, als zurückzuschlagen. «Das wäre mir ein Leichtes gewesen, hättet ihr nicht alle Spuren zertrampelt wie’s liebe Vieh!»
«Da waren keine Spuren. Es strippt seit zwei Tagen, dazu das Tauwetter …» Der Rest ging in der allgemeinen Unruhe unter.
Fialla wusste, dass die Bauern wahrscheinlich recht hatten. Dennoch hob er belehrend den dicken Zeigefinger. «Das hat einzig und allein das Untersuchungsorgan zu entscheiden. Nicht ihr!»
«Aber keiner aus Penig oder Rochlitz!» Das war wieder der vorlaute Hainich.
Unaufgefordert war die Rose-Wirtin mit einem gutgefüllten Gläschen in der Hand vor Fialla aufgetaucht, nach dem er reflexartig griff, bevor er seinen Fehler erkannte. Kein Alkohol im Dienst, läutete es unter seinem Tschako. Und keinerlei Blöße vor etwaigen Zeugen! Dabei hatte der vertraute Wohlgeruch der wasserklaren Flüssigkeit bereits seine geweiteten Nasenlöcher erreicht, so dass ihm gar keine Wahl mehr blieb und er das Zeug mit einer ruckartigen Bewegung in sich hineingoss, Pflichtgefühl hin oder her.
Die Bauern registrierten es mit zustimmendem Gemurmel. Gleich war man sich ein wenig näher, und Fialla vermerkte insgeheim als eventuelle Ausrede, dass ohne ein solches Exempel altdeutsch-völkischer Gemeinschaft keinerlei Zeugenaussage von der widerspenstigen Dorfbevölkerung zu erwarten gewesen wäre.
Das Ergebnis seiner Befragung blieb dennoch dünn. Niemand aus dem Kreis der Gutsbesitzer und Abspannbauern, der offenen Freunde und heimlichen Feinde, Neider und Konkurrenten, Schwäger, Cousins und weitläufigeren Verwandten, die sie ja alle waren, wollte sich vor den Augen und Ohren von so viel Zeugen, und noch dazu vor dem schwatzhaften Postboten und der Rose-Wirtin, zu eventuellen Hintergründen der schrecklichen Tat oder auch nur zur Person oder Familie des Toten äußern.
«Sprich mit dem Siegfried. Besser noch mit dem alten Heinrich», riet man Fialla, der nicht mehr erfuhr, als dass Ferdinands jüngster Sohn Gunther den seit zwei Tagen vermissten Vater im Rauber gesucht und endlich in jener mit Laub und Reisig überdeckten Senke gefunden hatte. Auf seinen gellenden Alarm und die klagenden Vorwürfe der Witwe hin sei eine Gruppe entschlossener Männer hinaus zum Rauber gefahren, um die Leiche zu bergen. Erst in der Geisler’schen guten Stube, wo man sie aufzubahren gedachte, sei die Stichverletzung im Rücken entdeckt worden, die vermutlich zu Ferdinand Geislers Tod geführt hatte. Und erst dann war jemand in die Rose geeilt, um die Polizei zu verständigen.
An Vermutungen über den Täter fehlte es nicht: herumziehende Zigeuner, verdächtige Waffenschmuggler, versprengte Reste der Hoelz’schen Banden aus dem Vogtland - auf gar keinen Fall jemand aus dem Dorf. In Wulkersbach gab es keine Mörder.
VIER
IN HAINICHS GEHÖFT wurde Konrad fündig. Beide Torflügel standen weit offen, und im Hof rings um den eingemauerten Dunghaufen ergingen sich schwarz gekleidete Männer und festlich gewandete Kinder. Hoffnungsvoll hatte Konrad das Motorrad in der Feldscheune an Geislers Zufahrt stehenlassen und sich mit Harry auf den Weg gemacht. Irgendwer würde ihm schon verraten, wer da eventuell zu Tode gekommen war und wo sich die Trauergemeinde aufhielt. Immerhin erklärte die Beerdigung einer angesehenen Persönlichkeit - eines Gutsbesitzers oder seiner Frau - die Abwesenheit der Dorfbewohner. Dabei musste keineswegs der örtliche Gottesacker gemeint sein, mit den umliegenden Dörfern war man in Wulkersbach auf vielfältige Weise verwandt und verschwägert.
Inständig hoffte Konrad, dass es nicht den alten Heinrich Geisler oder dessen Frau Ernestine getroffen hatte, beide hoch in den Siebzigern, wenn nicht älter, und ihm vertraut wie nahe Verwandte.
Deshalb fühlte er sich erleichtert, als er in Hainichs stattlichem Vierseitenhof als Erstem just dem alten Heinrich Geisler in die Arme lief, in einen weiten schwarzen Anzug gehüllt und mit einer zutiefst bekümmerten Miene. «Gunnrahd», rief der Alte wie ein Ertrinkender, der einen Balken erspäht, «dass du gekommen bist!»
Also doch die unermüdliche und nahezu stumme Ernestine, die wahre Seele der Familie Geisler! Konrad schüttelte die knochige Hand des Alten und sprach ihm sein Beileid aus. Beinahe hätte er ihn umarmt, doch erschien ihm das unschicklich. Zu derlei Vertraulichkeiten neigten die Wulkersbacher nicht.
Heinrich Geisler nickte kummervoll mit seinem weißen Haupt, und die gelblichen Spitzen seines Kaiser-Wilhelm-Schnauzers zitterten dabei. «Woher weißt du es überhaupt? Hat es sich bis Dresden rumgesprochen?»
Konrad wollte ihm nicht erläutern, dass er ja nicht einmal sicher war, um wen es sich bei dem oder der Dahingeschiedenen überhaupt handelte, und dass er rein zufällig hier aufgetaucht war. Er fragte nur diplomatisch: «Wie ist es denn dazu gekommen?»
Aus wässrigen Augen sah ihn der Alte fest an. «Ein Mord!», sagte er voll tiefer Trauer und Abscheu und stieß seinen Knotenstock erregt auf das Hofpflaster. «Ein ruchloser, blutiger Mord! Genau wie seinerzeit …»
Konrad erinnerte sich dunkel an eine Mordgeschichte, die mit dem Rauber zusammenhing. «Wie ist es denn passiert?», wollte er wissen. Direkt nach dem Namen des Opfers wollte er nicht fragen, dazu war es zu spät. Oma Ernestine konnte es kaum sein.
Heinrich Geisler, trotz seines Alters noch immer eine stattliche Erscheinung, hob die knochigen Schultern. «Hinterrücks erstochen. Im Rauba», stieß er dumpf hervor. Wiederum zitterten die Enden seines mächtigen Schnurrbartes. «Gehr nur rein», sagte er. «Die werden sich alle freuen, dich zu sehen.»
Damit hinkte er in Richtung Abort davon, nicht ohne die Mahnung zu hinterlassen: «Bind den Hund hier draußen an!» Was Konrad zu Harrys Leidwesen umgehend tat. In solchen Dingen war man im Dorf empfindlich. Ein Hund gehörte nicht in eine Trauergemeinde.
Während des Gesprächs mit dem alten Geisler hatte sich niemand genähert, jetzt begrüßten die Männer im Hof Konrad. In seiner ledernen Motorradkluft kam er sich reichlich deplaciert vor, doch das half nun nichts. Er musste hinein in Hainichs Heuboden, der vor langen Zeiten einmal der Tanz- und Festsaal des Dorfes gewesen war. Den hatten sie also extra ausgeräumt für die Trauerfeier oder vielmehr für den Leichenschmaus zu Ehren des Ermordeten. Er wusste noch immer nicht, um wen