Nicht zu trennen von den Problemen des ethnografischen Durcheinanders und der immerwährenden Ein- und Binnenwanderungen sind deren geografische Voraussetzungen. Es ist die grobe Dreiteilung des Landes, welche im Großen und Ganzen die Ethnografie der Halbinsel bestimmt: Der Küstenstreifen zwischen dem Mittelmeer im Osten und der westlichen Kordillere, die überwunden werden muss, um die zentralen Hochebenen zu erreichen. Sodann der Süden, der von der sogenannten Sierra Morena gegen das zentrale Hochland abgeschirmt wird sowie das zweigeteilte Hochland – Alt- und Neukastilien –, das die Mitte, den Norden und Westen einnimmt und selbst wieder in kleinere Einheiten zerfällt. Sie freilich spielen in der Ethnografie des antiken Hispanien keine vergleichbar entscheidende Rolle. Diese Räume sind nicht leicht und überall zugänglich. Von Osten aus erschließen die Flusstäler von Ebro, Jalón und Júcar die Meseten, von Süden der Despeñaperros-Pass und die westliche vía de la Plata. Haupt-Einfallwege von Norden sind die wenigen Pyrenäenpässe und die Küstensäume. Alle historisch erwiesenen großen Wanderungsschübe haben auf diesen Zugangswegen ihre Spuren hinterlassen, alle bedeutenden Landnahmen lassen sich mit den bezeichneten Großräumen verbinden – und auch alle großen Eroberungen. In der Völkerwanderungszeit ebenso wie in den napoleonischen Kriegen, ja noch im Bürgerkrieg der 1930er-Jahre spielen die genannten Zugangswege im Norden, Osten und Süden eine entscheidende Rolle.
Abb. 9 Das orientalisierte Hispanien in phoinikisch-karthagischer Zeit. 1. Enge Schraffur: TRT/TRS – Kerngebiet; 2. mittlere Schraffur: Das karthagische Dominium Tarschisch; 3. breite Schraffur: Äußerste Ausdehnung des vom Süden des Landes ausgehenden orientalisierenden Kultureinflusses.
Exkurs 1
Phoiniker und Punier
auf der Iberischen Halbinsel
„Denn eine Tarschisch-Flotte hatte Hiram auf dem Mittelmeer.“
(I Kön. 10.22)
Phoiniker, Karthager, Punier bedeuten nicht wirklich Unterscheidungen, sondern sind Bezeichnungen unterschiedlicher Herkunft zu verschiedenen Zeiten. Die frühen Bewohner der im 8. Jh. v. Chr. gegründeten nordafrikanischen „Neustadt“ Qrt Hadašt sind ebenso Phoiniker wie die ersten Bewohner von HaGadir im Südwesten der Iberischen Halbinsel. Später nennen die Römer, als sie beginnen, über die Grenzen ihres Kleinstaats, dann über diejenigen Italiens hinauszublicken, diese exotischen Seefahrer, die überall im Mittelmeerraum anzutreffen sind, Poeni. Davon kommt „Punier“. Mit der Zeit gewinnen diejenigen Phoiniker, welche sich an fernen Gestaden niederlassen, unterschiedliche Profile. In Verbindung mit den jeweiligen sozialen Kontexten entwickeln sie verschiedene Interessen; manche der Seehändler werden Agrarier, andere geben den ambulanten Handel auf und werden Hersteller von Fertigprodukten: von Purpur, der ,weltweit‘ geschätzten Fischsauce garum, Schmuck, Tongefäßen, Terrakotten und von tausenderlei Materialien des täglichen Bedarfs. Wiederum andere bauen Schiffe, mit denen sie in den atlantischen Ozean vorstoßen und das phoinikische Handelsnetz erweitern. So entstehen an der nordafrikanischen Atlantikküste weitere Faktoreien, von denen wir Mogador und Lixus genauer kennen. Vermutlich fuhren sie noch viel weiter nach Süden. Ob die Goldküste erreicht wurde, wissen wir nicht. Ähnlich verläuft die Entwicklung an der westhispanischen Küste in nördlicher Richtung. Hier war Zinnhandel zumindest ein Ziel. Es ist unklar, ob phoinikische Schiffe Cornwall oder die Bretagne erreichten oder ob Zinnlieferanten ihnen nach Süden entgegenfuhren. Möglich ist, dass einheimischer Zwischenhandel eine Rolle spielte.
So entstehen im Laufe von wenig mehr als 200 Jahren zahllose phoinikische Niederlassungen aller Art: Faktoreien mit Hafenanlagen und Lagerhäusern, Agrarsiedlungen, auch Wohnsiedlungen mit Handwerker-Vierteln. Bei vielen von ihnen fanden sich Bestattungsareale; mancher Grabbau ist von entsprechenden Anlagen im Vorderen Orient kaum zu unterscheiden.
Was durch die Zeit erhalten blieb, war eine enge Bindung dieser westlichen Phoiniker an die ursprüngliche Heimat, besonders in kultisch-religiöser Hinsicht. Zwar erhielt HaGadir früh ein eigenes, noch in der Spätantike nachweisbares Melqart-Heiligtum und scheint damit kultisch autark zu sein. Aber enge Beziehungen zu ihren levantinischen oder cyprischen Ausgangspunkten und Kultstätten sind so lange erkennbar, wie die Phoiniker im Osten politische Selbständigkeit genießen. Kennzeichnend ist, dass sich Karthago, als Alexander von Makedonien Tyros belagert, zur Hilfeleistung aufgerufen fühlt.
Ein westphoinikisches Kolonialreich ist das sich mit der Zeit immer weiter semitisierende Andalusien nicht zu nennen. Der Blick der West-Phoiniker, die nach meiner Interpretation in späteren Verträgen mit Rom immer noch „Tyrier“ heißen (Koch 2000, 170 f.), blieb auf die Mutterstadt Tyros gerichtet. Tyros entwickelte keinerlei ‚kolonialistische‘ Neigungen. Eigene Ambitionen der hispanischen Phoiniker in dieser Richtung lassen sich nicht erkennen und sind auch nicht wahrscheinlich. Es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass die frühen phoinikischen Neu-Hispanier Einheimische in irgendeiner Form in politische Abhängigkeit brachten. Im Gegenteil ist zu vermuten, dass phoinikischer Einfluss die einheimischen Herrschaftsverhältnisse – durchweg kleinere und größere chiefdoms – stabilisierte, indem man einheimischen Potentaten „Überbau“-Elemente schmackhaft machte, wofür die Carambolo-Insignien ebenso sprechen wie der Grabturm von Pozomoro und anderes.
Die allem Anschein nach friedliche und kulturell fruchtbare Entwicklung der westphoinikisch-einheimischen Beziehungen in Tarschisch erfuhr durch das Auftreten von Griechen in der TRT/TRS-Region im 7. Jh. v. Chr. keine einschneidende Veränderung, zumindest keine, die sich als negativ erkennen ließe. Ob die griechische Konkurrenz zu Spannungen führte, wissen wir nicht. Herodotos zufolge wurden die Griechen freundlich aufgenommen und fuhren reich beschenkt zurück. Allerdings haben wir feststellt, dass konkurrierende griechische Emporien sich im engeren Raum Tarschisch/Tartessos nicht dauerhaft etablierten. Ob Druck ausgeübt wurde oder ob der Markt die Verhältnisse regelte, muss einstweilen offen bleiben.
Eine Änderung trat erst ein, als die politische Situation im östlichen Mittelmeerraum eine neue Lage schuf. Für das unter assyrischem Druck handlungsunfähig gewordene Tyros trat die „Neustadt“ Karthago auf den Plan, dessen politische und soziale Entwicklung ganz andere Wege gegangen war als die der Phoiniker in Tarschisch und im ferneren Westen überhaupt. Handelsbeziehungen mit dem jungen Karthago sind in der phoinikisch-einheimischen Siedlung von Castillo de Doña Blanca (die spanische Forschung nennt diese Siedlung „tartessisch“) bereits im 8. Jh. v. Chr. nachgewiesen. Nun, im 6. Jh. v. Chr., schickt Karthago sich an, im Konzert der aufstrebenden Mächte des zentralen Mittelmeerraums mitzuspielen. Im Westen übernimmt es die Rolle einer Vormacht aller „Tyrier“, weniger nach innen als in deren Außenvertretung, was zivilen und militärischen Protektionismus, wie die Kontrolle der Straße von Gibraltar, einschließt.
Diese Kontrolle, die einer Sperrung gleichkam, hatte zur Folge, dass Informationen über die innere Entwicklung von Tarschisch kaum noch nach außen gelangten. Da die potentiellen karthagischen Schriftquellen der späteren Auseinandersetzung mit Rom zum Opfer fielen, besitzen wir so gut wie keine historiografischen Informationen über die karthagischen Aktivitäten in der Zeit zwischen den atlantischen Rekognoszierungsfahrten der Admirale Hanno und Himilko um 600 v. Chr. und dem Zweiten Vertrag zwischen Karthago und Rom, der in das Jahr 348 v. Chr. zu datieren ist. Es hat aber den Anschein, dass sich das Verhältnis zwischen den einheimischen Völkern des hispanischen Südens, den West-Phoinikern und den Karthagern im Ganzen friedlich gestaltete. Die polybianische Formulierung, wonach im 3. Jh. v. Chr. die Barkiden die πράγματα in Tarschisch wieder herzustellen hatten, lässt darauf schließen, dass von Karthago dort eine Verwaltungs- oder Organisationsstruktur geschaffen worden war, die während des ersten Konflikts mit Rom gelitten hatte. Es liegt nahe, dabei Abgaben verschiedenster Art, Mineralabbau und Söldnerwerbung zu vermuten, die in irgendeinem organisatorischen Rahmen miteinander verbunden waren. Es mag auch frühe Ansiedlung nordafrikanischer Gruppen gegeben haben,