Explorer ENTHYMESIS. Matthias Falke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias Falke
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Научная фантастика
Год издания: 0
isbn: 9783943795325
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heruntergepresst wurde und hier mit der Gewalt eines Wasserfalls über die Abbruchkante fegte. Einen Schritt unterhalb herrschte Windstille, allenfalls ein feiner Sog, doch im nächsten Augenblick ergriff einen der Jet-Stream. In den war sie nun nassforsch und gewichtslos hineingesprungen und wurde sofort etliche hundert Meter in die Luft und über mich hinweggerissen. Sie schrie nicht, aber ich hörte ihr explosionsartiges Keuchen in meinem Helm, als sie von der Wucht des Anpralls getroffen wurde.

      »Die Dämpfer runterregeln, aber langsam!«, rief ich in die Automatik, denn ihr Anzug samt Gepäck wog weit über einen Zentner, so dass sie wie ein Stein heruntergefallen wäre, hätte sich die Dämpfung ganz ausgeschaltet.

      »Ich hab das im Griff«, hörte ich, als sie in einem vielfachen salto mortale über mich hinwegraste. Dann aktivierte sie die Stabilisatoren. Ich sah, wie sie die Füße wieder nach unten bekam und langsam aus der Strömung heraussank. Bis sie auf dem Boden aufsetzte, war sie fast bis zu der Stelle, wo wir übernachtet hatten, abgetrieben worden. Ich wartete, bis sie wieder heraufgestapft kam und verkniff mir jede Häme. Dann setzten wir, mit hochgedrehten Trägheitskoeffizienten, den Anstieg fort.

      Wir näherten uns – »gewitzigt«, würde es in alten Reiseberichten heißen – der Passhöhe. Zehn Schritte unterhalb blieb ich stehen, drehte die Stabilisatoren hoch, die Dämpfer runter, bis ich mit einem Gewicht von zwei Zentnern auf dem Boden stand, und aktivierte die Pneumatik, die in den Anzug eingezogen war und die Muskulatur unterstützte. Dann schob ich mich Meter um Meter heran. Ich spürte den Jet-Stream am Helm, und wäre dieser nicht von einem virtuellen Gyroskop stabilisiert worden, hätte es mir den Schädel heruntergerissen. So registrierte ich lediglich, dass mir ein enormer Orkan entgegenstand, der messerscharf den bodennahen, völlig ruhigen Luftschichten auflag. Ich ging weiter, und der Sturm erfasste meinen Oberkörper, meine Hüften, meine Beine – und meine Psyche, denn wilde Bilderfetzen wurden mit heraufgewirbelt. Das Kali Gandaki blitzte auf, wo ein ähnlicher, aber trockenheißer Wind getobt hatte, und plötzlich stand ich in der Glocknerscharte, am Übergang vom Klein- zum Groß-Glockner, und tastete mich millimeterweise über die fußbreite Kante, während rechts die Palavicini-Rinne eine Meile tief auf die Pasterze hinunterbrach und der Höhensturm an meiner Daunenjacke zerrte und das Seil in weitem Bogen nach Osten hinausbauschte ...

      Mit einem Blick über die Schulter vergewisserte ich mich, dass Jennifer noch schräg hinter mir war, dann tat ich, mich instinktiv nach vorne stemmend, den letzten Schritt und stand auf dem polaren Hochplateau Lu-Aus. Ihre Hand war an meinem rechten Arm, und ich hörte ihre Stimme in der Automatik, unerwartet zärtlich.

      »Phan-ta-stisch!«

      Vor uns lag, unter dem violetten Licht einer fahlen Sonne, eine geröllbedeckte, blauschimmernde Hochebene von unermesslicher Ausdehnung. Grünliche und anthrazitfarbene Felsbrocken übersäten erstaunlich gleichmäßig den flachen Grund, der vor uns leicht abfiel, um dann, ohne weitere Gliederung des Geländes, bis zum Horizont zu reichen, der weiter und weniger gekrümmt war als auf der Erde und der ein Gebiet von tausenden Quadratkilometern umschloss. Der Blick verlor sich in einer Gesteinswüste von den Dimensionen eines Kontinents, allenfalls vergleichbar der Aussicht von einem Himalayagipfel in die Weiten Tibets hinaus. Das gesamte Plateau umfasste mehrere Millionen Quadratkilometer schweigendes, totes Land, von Ammoniak-Stürmen gepeitscht, immer 152 Erdjahre – so lange dauerte ein halber Umlauf von Lu-Au – im Permanganat-Glanz der fernen Sonne opalisierend, 152 Jahre im Frost kosmischer Finsternis, in der sich Reif aus Helium und Stickstoff bildete.

      Das war einmal der Traum meiner Jugend gewesen, so eine unendliche Landschaft, in die man wochen- und monatelang hineingehen konnte, ein Leben lang nur wandern ...

       Jetzt empfand ich vor allem Skepsis, was die Durchführbarkeit unserer Expedition anging. Jennifer hatte sich von meiner Seite gelöst – erst jetzt wurde mir bewusst, dass sie für einen Moment meine Hand gehalten hatte – und ging mit schweren Schritten los.

      »Der Wind lässt nach«, hörte ich sie sagen. »Er hat nur unmittelbar an der Kante diese Kraft. Ich wette, in drei bis fünf Kilometern Entfernung bemerkt man ihn nicht mehr.«

      »Will’s hoffen, sonst haben wir von vornherein keine Chance«, gab ich zurück und stakste langsam hinter ihr her. Anfangs war es etwas gewöhnungsbedürftig. Das sensorielle Gewebe des Anzugs erfasste Nerven-Impulse und Muskel-Aktivität und passte sich letzterer hautnah an. Die Pneumatik in den Beinmanschetten verlieh jedem Schritt die dreifache Kraft, so dass wir auch in voller Montur und bei reeller Schwerkraft normal gehen konnten. Aber eben nicht mehr. Ich trottete also los wie ein Trekkingtourist, der seinen ersten Fünftausender macht und jedes Gramm seiner Ausrüstung verflucht. Der Jet-Stream ließ aber tatsächlich bald nach, so dass ich sukzessive die Dämpfer hochfahren und die Schrittlänge steigern konnte. Jennifer war mit langgestreckten Sätzen schon wieder weit voraus.

      »Warum haben wir keinen Scooter mitgenommen?«

      Hatte sie das gefragt, oder hatte ich mir den Vorwurf nur eingebildet? Auch in Zeiten genetisch-psychischen Designs ist Über-Ich nicht kleinzukriegen und stellt ständig gerade das in den Raum, was man am wenigsten rechtfertigen kann.

      »Weil es keine gibt, die ohne elektrische Halbleiter auskommen, und wenn dir die Kiste dann in ‘nem Magnet-Wirbel verreckt, stehst du erst recht dumm da.«

      Hatte ich laut gesprochen oder nur innerlich monologisiert? Wie lange waren wir schon unterwegs? Welche Strecke hatten wir zurückgelegt? Ich bemerkte, wie Nervosität und Angst, das Gefühl des Ausgesetztseins sich in mir breit machten. Drehte ich allmählich durch? Ich verlangsamte meine Sprünge und sah mich um. 360°, soweit die Windrose reichte, nichts als flaches, aquamarinblau schimmerndes Geröll, topfeben. Irgendwo schräg hinten stand die Sonne, nicht viel heller als der Mond von der Erde aus, und die Scheibe war viel kleiner. Ein Stern der Größe I, aber nicht eigentlich ein Tag-Gestirn. Der Himmel, der in düsterem Kobaltblau, im Norden ins Violette spielend, dröhnte, war fast völlig klar. Nach vorne sah man ein paar Sterne. Die Konstellationen unterschieden sich nicht allzusehr von denen daheim. Die Milchstraße, so gut wie unverändert, zog sich als silbrige Brandung von feinem Perlmuttglanz flach über dem Horizont dahin.

      Wo war Jennifer? Eine Orientierung aus eigener Kraft war kaum möglich. Ich schielte auf das Navigationsarmband und drehte mich wieder so, dass ich die Sonne im Rücken, meinen faden Schatten etwa auf 11 Uhr vor mir hatte. So musste ich sie sehen.

      »Jennifer?«

      Sie war offline gegangen. Vermutlich hatte sie mein Atmen in den Kopfhörern gestört. Ich bin eben nicht mehr der Jüngste! Es war völlig still im Helm. Bloß die Automatik, die alle fünf Sekunden die Verbindung prüfte, blinkte grün über meinem rechten Auge ... Sie tat es nicht! Hatte sie ...? Ich versuchte mir krampfhaft ins Bewusstsein zu rufen, ob und wie lange die Diode etwas angezeigt hatte. In diesem Moment sprang die rote Leuchtdiode an, die signalisiert, dass die lokale Leitung zusammengebrochen ist.

      »Jennifer!«, rief ich sinnloserweise in die tote Automatik.

      »Passive Verbindung offline«, nörgelte es an meinem rechten Ohr.

      »Weiß ich«, schnauzte ich zurück. Verdammter Mist, und das nach so einer beschissenen Nacht!

      »Verbindung wiederherstellen«, befahl ich, »Scan über alle Frequenzen. Wie sieht’s mit der ENTHYMESIS aus?« Aber auch da erfuhr ich nur, was ich schon wusste.

      »Keine Verbindung zur ENTHYMESIS und via Relais zum Mutterschiff seit 82° 47’.« Das war der Übergang auf’s Hochplateau gewesen. Seither waren wir von allem abgeschnitten.

      »Jennifer!«, schrie ich, und »Spar dir deine Kommentare!«, raunzte ich die Automatik an, die mich wieder über die Unsinnigkeit einer Ansprache bei toter Leitung informieren wollte. Irgendwo ging ein grünes Lämpchen an, aber es war das auf der linken Seite. Stress!

      »Jetzt sei nicht gleich beleidigt«, ermahnte ich die virtuelle Intelligenz meines Raumhelmes. »Sieh lieber zu, dass wir online gehen! Was mach ich zum Stress-Abbau?«

      »Reduktion des Nebennieren-Adrenalins durch körperliche Aktivität.«

      Ich lief also langsam wieder los, in nördlicher Richtung