Nach der Biologie nimmt sie sich die Psychoanalyse vor, ebenfalls, um die Unzulänglichkeit dieser Theorie zu zeigen, die vorgibt, erschöpfend über die Psyche der Frau Auskunft zu geben. Sie beruft sich vor allem auf Freud und antizipiert eine Kritik, die erst später breiter einsetzte. Sie zeigt nämlich, dass Freuds Theorie eindeutig die Spuren seiner männlichen Perspektive trägt. Vor allem führt Beauvoir den Penisneid an, den das weibliche Kind Freud zufolge empfindet. Es ist die moderne Version von der Frau als Mängelwesen, der Frau also, die immer nur in Relation zum Mann gedacht wird. Und selbst wenn das Mädchen neidisch auf den Penis des Jungen wäre, dann könne, so erklärt sie, das Motiv höchstens der Wert sein, der dem kleinen Unterschied als Zeichen der Männlichkeit von der Gesellschaft zuerkannt werde. Beauvoir muss aufgrund ihrer Denkposition notwendigerweise die Psychoanalyse ablehnen. Die Annahme, dass es ein Unbewusstes gibt, das mich steuert, stellt einen Determinismus dar, der mit Beauvoirs Freiheitsphilosophie unvereinbar ist.20 Der Anstoß zum Handeln geschieht nicht kausal, sondern final: Der Mensch, auch die Frau, definiert sich durch seine Ziele. Auf der Suche nach Werten in einer Welt von Werten.
Um die ökonomische und soziale Struktur dieser Welt zu ergründen, setzt Beauvoir sich – ebenfalls kritisch – mit dem historischen Materialismus auseinander. Zwar ist auch für sie die Wirklichkeit identisch mit der Geschichte, nicht mit der Natur. Sie widerspricht aber der Vorstellung, dass es in der klassenlosen Gesellschaft, wäre sie erst realisiert, keinen Unterschied mehr gebe zwischen Männern und Frauen, weil alle nur noch Arbeiter – also gleich – seien. Wie Biologie und Psychoanalyse ist auch der historische Materialismus in den Augen Beauvoirs reduktionistisch, denn er definiert den Menschen nur über die Ökonomie. Auch in diesem Falle lässt sie die Daten, die er zutage fördert, nur gelten in dem Maße, wie der Mensch ihnen innerhalb der umfassenden Perspektive seiner Existenz Bedeutung verleiht.
Geschichte
Beauvoir hat also in den drei Einzelwissenschaften, die sie untersucht hat, keine Antwort auf ihre Frage gefunden, warum in der Geschichte der Mann dauerhaft zum Subjekt und die Frau zum Objekt wurde, aber sie hat jetzt das nötige Rüstzeug, um selbst diese Untersuchung durchzuführen.
In einem beeindruckenden Schnell-Parcours von 100 Seiten durchmisst sie die abendländische Geschichte von den Urhorden bis zu ihrer Gegenwart: Häufig wüsste man gerne, aufgrund welcher Quellen.21 Die Antwort auf ihre Frage findet sie gleich zu Beginn. Auch als die Menschen noch als Nomaden umherzogen, war die Frau wesentlich mit der Reproduktion der Gattung beschäftigt, dem Gebären, der Mann dagegen mit dem Erfinden: Er eignete sich die Welt an, um das Überleben der Gattung zu sichern. Das aber ist Beauvoir und Sartre zufolge genau die Aktivität des Entwerfens und sich selbst Überschreitens, die die genuine Möglichkeit des Subjekts ausmacht. Sie umfasst auch den Einsatz des eigenen Lebens – auf der Jagd und im Krieg. Die Frau spendet Leben, der Mann tötet. Beauvoir kommt zu der verblüffenden Einsicht, dass demjenigen, der tötet, mehr Bedeutung beigemessen wird als derjenigen, die Leben zur Welt bringt.22
Dies ist Beauvoirs existenzialistische Interpretation von Zeugnissen der Vorgeschichte, die sicherlich nicht alle überzeugt. Für die Philosophin ist Gebären lediglich Wiederholung desselben, auf der Stelle Treten, Vermehrung von Masse, wenn man so will, durch welche die Situation nicht überschritten, keine ontologische Begründung erreicht wird. Die Männer dagegen annektieren die Welt, sie modellieren die unbearbeitete Natur und erkennen sich selbst in dieser Modellierung wieder. Dies blieb den Frauen verwehrt. Sie mussten in einer Position verharren, die ihnen die Subjektwerdung unmöglich machte.
Auch als die Nomaden sesshaft werden, bleiben die Frauen Objekte. Zwar werden die Kinder aufgewertet, die Gemeinschaft erkennt sich in ihnen als Erben des Territoriums. Beziehungen auf Gegenseitigkeit gehen aber nur Männer miteinander ein. Die Frauen gehören zu den Gütern, die sie besitzen. Beauvoir stützt sich hier offenbar auf Friedrich Engels’ Schrift über den Ursprung der Familie, auch die ethnologischen Schriften von Claude Lévi-Strauss, beide durch das existenzialistische Filter gesehen. Aus Zeitgründen kann ich nicht im Einzelnen darstellen, wie die zunehmende technische Beherrschung der Natur Beauvoir zufolge das Geschlechterverhältnis immer neu modifiziert, ohne jedoch grundlegend etwas an der Subjekt-Objekt-Beziehung zu ändern. Beauvoir liest das an antiken Mythen ab, bald gibt es auch Zeugnisse wie das Zitat von Pythagoras, das sie ihrem Buch vorangestellt hat:
Es gibt ein gutes Prinzip, das die Ordnung, das Licht und den Mann geschaffen hat, und ein böses Prinzip, das das Chaos, die Finsternis und die Frau geschaffen hat.
Als Kommentar dazu kann man das angefügte Motto des französischen Frühaufklärers Poullain de la Barre lesen:
Alles, was von Männern über Frauen geschrieben wurde, muss verdächtig sein, da sie zugleich Richter und Partei sind.
Beauvoir widmet sich in der Folge dem griechischen und römischen Altertum sowie dem Mittelalter und kann eine Fülle von Fakten berichten. Sie hatte als Lehrerin nicht nur Philosophie, sondern auch klassische Philologie und französische Literatur unterrichtet und zweifellos auch daher einen guten Fundus an Wissen. Man müsste untersuchen, ob das, was sie schreibt, nicht heute zum Teil überholt ist. Leider bringt unter den Beauvoir-Forscherinnen für diese Fragen kaum jemand Interesse auf.23 Die Griechen waren Beauvoir zufolge große Frauenhasser: Denken Sie an die sprichwörtliche Xanthippe. Bei den Römern ging es der Frau noch schlechter: Sie hat den juristischen Status eines Haustiers, jedenfalls zunächst; dann erhält sie zunehmend mehr Rechte. Die Emanzipation, die sie erreicht, wird jedoch durch Einschränkungen anderer Art wieder zurückgefahren: Indem man das weibliche Geschlecht en bloc als minderwertig erklärt, versucht man die drohende Gleichstellung zu unterbinden.
Beauvoir berichtet danach über die Lage der Frauen im frühen Christentum, die auch nicht besonders günstig war, sobald die Sünde mit der Sünde des Fleisches identifiziert und die Frau als Versuchung des Teufels betrachtet wurde. Der mittelalterliche Frauenhass ist sprichwörtlich. In den Jahrhunderten danach erhalten die Frauen in den privilegierten Klassen mehr Bildung, Kultur, Freiheit und Selbständigkeit, aber die Blaustrümpfe werden mit Hohn bedacht. Das 18. Jahrhundert brachte immerhin schon männliche Feministen hervor, aber auch Autoren wie Rousseau, die die Frau ausschließlich für Ehe und Mutterschaft reservieren wollen.
Dass die Französische Revolution die Frauen nicht favorisierte, ist bekannt. Die Menschenrechte waren tatsächlich Männerrechte. Im 19. Jahrhundert werden die Frauen in Küche und Haushalt versklavt. Als Beleg bringt Beauvoir ein Zitat von Honoré de Balzac aus der Physiologie du mariage:
Die Bestimmung der Frau und ihr einziger Ruhm liegen darin, das Herz der Männer höher schlagen zu lassen … die Frau ist ein Eigentum, das man durch Vertrag erwirbt. Die Frau ist genau genommen nur ein Annex, ein Anhängsel des Mannes.
Aber im 19. Jahrhundert gab es auch die utopischen Sozialisten, die die Abschaffung jeglicher Sklaverei verlangten. Damit wird zumindest in der Theorie auch die Frau befreit. Beauvoir bedauert, dass nicht immer die vernünftigen Thesen die meisten Anhänger finden. Von einigen Sozialisten werde die Frau nämlich auch im Namen ihrer Weiblichkeit verherrlicht, was das sicherste Mittel sei, sie zu schädigen. Die Frau muss – so Beauvoir – nicht als Frau, sondern als Mensch anerkannt werden, damit ihr Gerechtigkeit widerfährt. Gerechtigkeit kann sie nur durch Gleichheit erfahren.
Es sind schließlich zwei entscheidende