Schicksalsmomente. Stefan Fröhling. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Fröhling
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783865065919
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die Sprache der Religion und der Gelehrsamkeit, aber das einfache Volk beherrschte sie nur unzureichend.“22 Unter den Juden der hellenistisch beeinflussten Diaspora war das Griechische dominant. Oftmals hatten Hunger und Not sie gezwungen, ihr Heimatland Palästina zu verlassen, sodass sie zur Zeit Jesu im ganzen Mittelmeerraum angesiedelt waren. In Jerusalem und Palästina lebte gut eine halbe Million Juden, in der gesamten Diaspora („Zerstreuung“) lebten an die vier Millionen.23

      Da viele unter den Diaspora-Juden die hebräische und die aramäische Sprache nicht mehr kannten, verwendeten sie in ihren Gottesdiensten oder bei den religiösen Unterweisungen die sogenannte „Septuaginta“. Die Legende berichtet, dass im dritten Jahrhundert vor Christus jeweils sechs Schriftgelehrte aus den zwölf Stämmen Israels, also zusammen 72, vom ägyptisch-hellenistischen König Ptolemaios II. Philadelphos (regierte 282 - 246 v. Chr.) auf die Insel Pharos bei Alexandria geholt wurden, um den alttestamentlichen „Pentateuch“, das heißt die „fünf Bücher Mose“ (wörtlich: „Fünfrollenbuch“), ins Griechische zu übersetzen, was ihnen just in 72 Tagen gelungen sein soll. Der Übertragung des Pentateuchs (hebräisch „Tora“, also „Gesetz“ oder „Weisung“), die tatsächlich für das dritte Jahrhundert anzunehmen ist, sind im Laufe der Zeit die anderen Bücher des Alten Testaments sowie einige weitere aus dem Umfeld gefolgt. Die Zahl 72 wurde in der späteren Überlieferung auf 70 verkürzt. Das Wort „Septuaginta“ steht im Lateinischen für die Zahl 70 (LXX). Die Evangelisten, die ebenfalls griechisch schrieben, haben ihre alttestamentlichen Zitate der Septuaginta entnommen und sich stilistisch auf sie bezogen.

      Paulus war mit der griechischen Sprache aufgewachsen und kannte die Schriften des Alten Testaments resp. die Septuaginta sehr gut, obwohl er darüber hinaus gewiss mit der aramäischen und wahrscheinlich auch mit der hebräischen Sprache vertraut war. Von der lateinischen Sprache besaß er wohl nur bruchstückhafte Kenntnisse.24 Der Apostelgeschichte nach (18,3) hatte Paulus den Beruf des Zeltmachers erlernt, der die Erzeugung von Leder- und Leinenprodukten umfasste. So konnte er sich während der Missionsreisen seinen Unterhalt verdienen und musste den heidenchristlichen Gemeinden nicht auf der Tasche liegen. Wo und wann genau er die handwerkliche Ausbildung absolviert hat, wo und wann er in der Tora und anderen religiösen Schriften des Judentums unterwiesen worden ist, gilt als ungeklärt. Beides könnte ebenso gut in Tarsus wie in Jerusalem gewesen sein, obgleich bei „Lukas“ zu lesen ist, dass Paulus sich von Jugend an in Jerusalem aufgehalten habe (Apg 26,4).

       Paulus, der Pharisäer

      Ohne jeden Zweifel aber haben wir in Paulus einen überzeugten Pharisäer vor uns. Mag sein, dass bereits die elterliche Erziehung ein auslösendes Moment für seine religiöse Radikalisierung gewesen ist; wohl aber hat er einen entsprechenden Entschluss aufgrund seiner religiösen Studien gefasst. Möglicherweise war der Ende des ersten Drittels oder im zweiten Drittel des ersten Jahrhunderts in Jerusalem wirkende jüdische Gelehrte Gamaliel d. Ä., der hohes Ansehen genoss, sein Lehrer. Der Pharisäer Gamaliel wird allerdings von „Lukas“ als ein toleranter Mann beschrieben (Apg 5,34 – 39). Paulus trat als Pharisäer entschieden für die religiösen Überlieferungen seines Volkes und die klare Umsetzung der daraus resultierenden Gesetze ein, und das vielleicht auch, weil er von einer zeitnahen jüdisch-messianischen Endzeit- und Gerichtserwartung ausging, die hernach eventuell mit seiner christlichen Naherwartung korrespondierte.25

      Aus diesen Gründen hat er die Kirche Christi („Ekklesia“) verfolgen und vernichten wollen, wie er im Brief an die Galater freimütig bekennt: „Ihr habt doch gehört, wie ich früher als gesetzestreuer Jude gelebt habe, und wisst, wie maßlos ich die Kirche Gottes verfolgte und zu vernichten suchte. In der Treue zum jüdischen Gesetz übertraf ich die meisten Altersgenossen in meinem Volk, und mit dem größten Eifer setzte ich mich für die Überlieferungen meiner Väter ein“ (Gal 1,13 – 14).

      Der Begriff „Ekklesia“, der mit den Worten „Herausgerufene“ resp. „Versammlung“ zu übersetzen ist, bezeichnet im ersten Jahrhundert noch keine institutionalisierte Kirche, sondern pauschal die Gemeinschaft der Christusgläubigen und speziell die frühen Hauskirchen, also die Häuser einzelner Gemeindemitglieder, in denen sich die Gläubigen versammelten. Der Begriff „Kirche“ wiederum ist mit dem griechischen Wort „Kyrios“ („Herr“) verwandt und bezieht sich auf Jesus Christus, den Herrn.

      Der Beginn des Zeitraums, in dem sich Paulus als „Pharisäer“ gegen die Christen gewandt hat (Phil 3,5 – 6), dürfte vor dem Auftreten und der Steinigung des Stephanus um 33 anzusetzen sein. Mit seinem Bekehrungserlebnis, das sich um oder nach 33 ereignet hat, konnte sich Paulus dann von den Pharisäern lösen. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass Paulus von Jesus vor dessen Kreuzigung gehört hat oder ihm gar begegnet ist.

      Ab dem zweiten Jahrhundert vor Christus treten im Judentum diverse fromme Gruppierungen in Erscheinung, die eine strenge, gesetzestreue Religiosität vertreten. Zu ihnen zählen die Pharisäer (die „Abgesonderten“). Diese fanden sich in Gemeinschaften zusammen, die vorbildhaft auf die Umsetzung der Gebote und der kultischen Reinheit achteten. Sie waren bei der jüdischen Bevölkerung sehr angesehen und nicht ohne politischen Einfluss. „Zu den pharisäischen Gemeinschaften gehörten einzelne Priester, vor allem aber Laien, Handwerker, Bauern und Kaufleute, die nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Land, in Judäa und Galiläa, lebten.“26 Im Gegensatz zu dieser Volksbewegung rekrutierten die Sadduzäer – die ihren Namen auf Zadoq zurückführten, einen Hohenpriester aus der Zeit König Salomos – ihre Anhänger aus den priesterlichen und aristokratischen Kreisen Jerusalems. Ihnen lag sehr viel an der Erhaltung ihrer Macht und ihrer Ämter. „Die Sadduzäer behaupten […], es gebe weder eine Auferstehung noch Engel noch Geister [Dämonen], die Pharisäer dagegen bekennen sich zu all dem“, weiß die Apostelgeschichte zu berichten (23,8). Im Unterschied zu den Pharisäern glaubten die Sadduzäer also nicht an die Auferstehung der Toten am Ende der Zeiten.

      In beiden Gruppierungen befanden sich auch Schriftgelehrte, die jedoch einen eigenen Stand bildeten. In diesen wurden nur Männer aufgenommen, die eine umfassende Kenntnis der jüdischen Schriften besaßen. „Die Ausbildung eines Standes von Schriftgelehrten muss in der Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Hellenismus erfolgt sein.“27 Klosterähnlicher waren die Essener (die „Frommen“) organisiert. Ihre Gemeinschaften waren stark von der Askese und festen Tagesabläufen geprägt. Die Zeloten (die „Eiferer“) waren eine Gruppierung, die sich im ersten Jahrzehnt unserer Zeitrechnung von den Pharisäern abspaltete und den bewaffneten Kampf gegen die römische Besatzungsmacht aufnahm. Das führte im Jahr 66 zum Ausbruch des ersten Jüdischen Krieges, den die Römer im Jahr 70 mit der Zerstörung Jerusalems siegreich beendeten. Die Sadduzäer und Essener gingen in diesem Krieg unter.

      Der Monotheismus und die differenzierte Ethik des Judentums waren bei den gebildeten Menschen der hellenistischen Welt sehr beliebt. Denn die alten griechischen und römischen Göttervorstellungen oder die Mysterienkulte und Orakel konnten ihnen offensichtlich keinen religiösen Halt vermitteln und die Sinnfragen nicht hinreichend genug beantworten. Zudem distanzierten sich die Philosophen (Stoa und Epikureer) von den überkommenen Götterbildern.

      Die Geschichte der frühen Jesus-Bewegung und der ersten schriftlichen Quellen über sie ist mit diesem gesamten Umfeld mehr oder weniger eng verflochten, zumal die Pharisäer nach dem Jüdischen Krieg mehr Geltung erlangten und schon im Jahr 70 den endgültigen Bruch mit den Christen für das Judentum vollzogen haben.28 Auch die Entstehung der Kirche und ihr späterer Stellenwert sind ohne das Römische Weltreich und dessen Untergang im fünften Jahrhundert nicht zu denken. Gerade die Gegnerschaft der Pharisäer, die mit der Kritik Jesu an ihrer peniblen Gesetzesauslegung und -befolgung beginnt, hat der Urgemeinde in Jerusalem und Palästina schwer zugesetzt.

      Es verwundert deshalb nicht, dass die Apostelgeschichte in der ersten Texthälfte unter anderem auf den Pharisäer Paulus fixiert ist. „Lukas“ wirft ihm vor, dass er in Jerusalem an der Ermordung des hellenistischen Judenchristen Stephanus, der als erster christlicher Märtyrer gilt, mitgewirkt hat (Apg 7,54 - 8,1a und 22,20). Allerdings ist eine Beteiligung des Paulus’ an jener Aktion, historisch betrachtet, unwahrscheinlich, denn „Lukas“ hat diese Bemerkungen wohl nachträglich eingefügt resp. diesen