Darin wird gleichzeitig die andere Seite der Selbstbeschreibung sichtbar, die Seite der Selbsterfindung und Selbsthervorbringung. Selbstbeschreibung, wie Rorty sie ins Auge fasst, dient der Selbstinterpretation, dem Entwurf der eigenen Identität, womit Konnotationen der Konstruktion, aber auch der Befreiung und Selbstbejahung verbunden sind. In radikaler Version bedeutet solche Selbstbeschreibung, sich von metaphysischen Menschenbildern, von einer vorgegebenen Wesensbestimmung zu verabschieden; doch auch wo sie nicht im engen Sinne als Selbstschöpfung konzipiert ist, bedeutet sie, dem eigenen Sein und Sosein die konkrete Prägung zu geben, an der sozial und biographisch bedingten Identität herumzumodeln, ihr Profil zu gestalten und ihre Bedeutung im eigenen Leben zu verankern. Zumeist und zuletzt sind beide Seiten, die rezeptive und die konstruktive Dimension der Selbstbeschreibung, nicht getrennt; sie durchdringen sich und gehen gemeinsam in die konkrete Selbstwerdung des Einzelnen wie der Gruppe ein. Viele Autoren haben im künstlerischen Schaffensprozess das Wechselspiel von Verstehen und Sagen, Lesen und Schreiben betont, beim Maler, der im Bild erscheinen lässt, was sich ihm zeigt und sich offenbart, beim Komponisten, der Gehörtes erklingen lässt. Generell hat phänomenologische Hermeneutik das Vermögen und die Aufgabe des Menschen beschrieben, die Sprache der Dinge zu vernehmen und demjenigen Ausdruck zu verleihen, was in den Phänomenen erscheint, sich dem Menschen öffnet, im Wirklichen zu Wort kommt. Im Selbstverhältnis ist diese Interferenz zwischen Hören und Antworten unhintergehbar, und sie durchzieht das Empfinden, das Tun und Sichäußern des Menschen und macht in dieser Doppelseitigkeit das Potential der Selbstbeschreibung aus. Im Ganzen affiziert solches Schreiben die Sache selbst. Anders als bei der deskriptiven Vermessung äußerer Gegenstände geht das Beschreiben des eigenen Tuns und Erlebens, das Sichschreiben und Sichausdrücken des Subjekts in das von ihm Geschriebene ein. Selbstbeschreibung ist keine nachträgliche Erfassung, sondern ein inneres, konstitutives Moment des Selbstseins und der Führung seines Lebens.
(c) Lebensbeschreibung und Selbstwerdung
Sich selbst beschreiben heißt zuletzt sein Leben (be)schreiben. Über die Erkundung seiner Fähigkeiten und Wünsche, die Orientierung in seinem Handeln und die Verständigung über seine Ziele hinaus gilt die Selbstaufklärung der faktischen Gestalt und dem Verlauf des Lebens. Mich kennenzulernen heißt auch, mein gelebtes Leben zu vergegenwärtigen, es zu entziffern, es niederzuschreiben. Eine basale Weise der Selbstfindung ist das Sich-Finden im Laufe seines Lebens, ein zentraler Pfeiler der Identitätskonstruktion ist die verantwortungsvolle Übernahme der unverwechselbaren Lebensgeschichte. Dies meint nicht eine Moralisierung des eigenen Gewordenseins, als ob dieses zur Gänze meinem Wollen und Handeln entstammte und ich für alles, was mein Leben ausmacht, das von mir Verschuldete wie das mir Zugestoßene Rechenschaft abzulegen hätte. Die Lebensgeschichte ist, wie Geschichte überhaupt, nur zum Teil Ergebnis meiner Intentionen und Taten, daneben zu einem erheblichen Teil nicht-intendierte Folge meines Handelns und Resultat der Überkreuzung meines Tuns mit äußeren Ereignissen und fremden Handlungen. Gleichwohl setze ich mich zu ihr in ein nicht nur kognitives, sondern auch praktisches Verhältnis, stehe ich vor der Frage, in welcher Weise ich sie als die meine übernehme und für sie einstehe. Die Identifikation über die Geschichte ist ein anderer Modus der Selbstfindung als die Verständigung über Lebensentwürfe, Normen und Ideale; doch bildet auch sie einen wesentlichen Teil der lebensweltlichen Selbstvergewisserung und des Einswerdens mit sich.
In der identitätskonstituierenden Funktion der Lebensbeschreibung lassen sich unterschiedliche Kristallisationspunkte auseinanderhalten.11 Ein erster liegt in der Gestalt und inneren Konsistenz des Lebenslaufs. Sein Leben beschreiben heißt zuallererst die Kontinuität einer Geschichte ausbreiten, die zeitliche und bedeutungsmäßige Verknüpfung ihrer Episoden konstruieren. Die Erzählung schließt Früheres und Späteres als Teile eines Ganzes zusammen, keineswegs als notwendige Sequenz oder Entwicklung, sondern zunächst einfach im Modus der sinnhaft lesbaren Aufeinanderfolge, welche bereits als solche eine minimale Stringenz gegen Zerstreuung und Diffusion realisiert. Es ist eine Leistung der narrativen Konstruktion unabhängig von der historischen Streitfrage, wieweit reale Kontinuitäten vorliegen oder Brüche und Lücken durch Einheitsfiktionen überwölbt und verdeckt werden. Über die chronologische Folge hinaus ist die Einheitsbildung sodann die eines Sinnzusammenhangs, innerhalb dessen Ereignisse nach ganz verschiedenen Hinsichten – als Vorstadien, Ursachen, Gegenbewegungen, Erfüllungen – bedeutungsmäßig auf andere beziehbar und damit in eine Erzählung integrierbar sind. Diese Beziehungen geben der Geschichte als ganzer ihr bestimmtes Profil, ihren Sinn, durch welchen sie ihre Bedeutung und ihren Ort in unserem Leben finden. In der narrativen Strukturierung lässt der Mensch die Lebenszeit nicht einfach verstreichen, sondern gibt ihr die bestimmte, konfigurierte Gestalt, in welcher sie zum Raum seines Lebens wird. Die Weisen solcher Gestaltgebung können nach unterschiedlichen Modellen und Kriterien praktiziert, aber auch kritisiert, korrigiert, aufgenommen und weitergeführt werden – Kriterien der objektiven Wahrheit oder der ästhetischen Gestalt, der kognitiven Durchdringung und der lebensweltlichen Eignung. Immer geht es darum, wie der Mensch in der Aneignung seines Lebens mit sich zurechtkommt, wobei das Ideal einer erzählbaren Geschichte nur ein – doch ein zentrales, nicht kontingentes – Modell des Einswerdens mit sich und seinem Leben darstellt.
Wieweit sich die Strukturen des Lebens und des Erzählens von sich aus zueinander fügen und ob das narrative Modell das Leben als ganzes umfasst oder seinen genuinen Ort nur innerhalb des Lebens, als Gefüge einzelner Epochen und Episoden besitzt12, mögen offene Fragen sein. Ein entfremdeter, desintegrierter Lebensverlauf kann sich der erzählenden Formgebung und subjektiven Aneignung widersetzen.13 Unabhängig davon zeigt sich die biographische Arbeit als eine Weise, sich mit der Zerrissenheit und Fragilität des Selbst auseinanderzusetzen, gegen Diffusion und Desintegration feste Gestalt und Identität zu gewinnen. Sie kann ihr Ziel darin haben, sich mit seinem Leben zu versöhnen, über Lebensekel und Leiden hinauszukommen, ja, sie kann sich darüber hinaus unter Leitvorstellungen des erfüllten Lebens, des Glücks stellen, die Erzählung selbst zu einem Moment des guten Lebens werden lassen. Ob solche Ideale erreicht werden, ob die Lebensbeschreibung gelingt oder scheitert, wieweit sie stabilisierungsfähig ist oder prekär bleibt, einer wahren Selbstfindung zugutekommt oder der Selbsttäuschung zuarbeitet – all dies ist vom realen Leben wie seiner konkreten Beschreibung gleichermaßen abhängig.
Nach einer anderen Hinsicht ist das Telos der Lebensbeschreibung mit der zeitlichen Verfassung des Lebens verwoben, der Besinnung auf das Vergangene und dem Ausgriff auf das Ganze. Wenn die narrative Form ihr Grundgerüst ist, so ist der Rückblick ihre originäre Blickrichtung; der retrospektive Vorgriff bildet die Kernstruktur des narrativen Satzes14, das Präteritum ist die Zeitform der Erzählung.15 Lebensbeschreibung handelt von Vergangenem, ihr Antrieb und ihre Leistung liegen nicht zuletzt im Widerstand gegen das Vergehen und Entschwinden des Lebens. Sie hält für die Gegenwart fest, was nicht mehr da ist; sie sucht, gräbt aus, rekonstruiert, was teils im Gedächtnis und in Dokumenten niedergelegt ist, teils unsichtbar und abwesend ist, sich der Vergegenwärtigung entzieht. Lebensbeschreibung ist Ausdruck des Bedürfnisses, sich in seinem Leben zu sammeln, sich im Zusammenhang seines Lebens als ganzem zu erkennen. Der Wunsch, sich in seinem Leben gegenwärtig zu werden, ist Movens des Schreibens des Lebens. Rilke spricht von der Notwendigkeit, das »Diktat des Lebens« nachzuschreiben.16 Die Rede vom Diktat und Nachschreiben spielt darauf an, dass es etwas zu hören, zu lesen gilt, dass das Leben selbst spricht und einen Sinn transportiert, der vom Diktatschreiber in Wahrheit aber nicht nur registriert und transkribiert, sondern zur Sprache gebracht, in seiner Bedeutung entfaltet und herausgestellt werden muss. Dem Bedürfnis des Menschen, sein Leben zu schreiben, korrespondiert die Notwendigkeit des Lebens, artikuliert zu werden und eine Sprache zu finden.
Menschen leben so, dass sie sich zugleich ihr Leben erzählen.