Dann, ganz überraschend für Christina, nickt sie freudig ihrer Tochter zu. „Jetzt sehe ich auch die Vorteile, wenn DEIN Vater in Schweden arbeitet.“ Dann aber die Stirn runzelnd:
„Aber DICH hat der Papa doch nie geschlagen. DU spürst doch gar nicht seinen Zorn. Warum sagst DU ausdrücklich, dass wir dann nicht geschlagen werden?“
Christina beißt sich auf ihre Lippen und setzt sich zu ihrer Mutter. „Mutti, ich möchte nicht mehr lügen. Papa hat sich wohl sein Leben anders vorgestellt. Wenigstes gibt er wohl uns die Schuld, dass er nicht frei ist. Wenn er kein Bier trinkt, dann nimmt er sich zusammen. Aber er geht jetzt noch öfters nach der Arbeit in die Kneipe. Wenn er dann nach Hause kommt, dann versuche ich wirklich alles, damit er sich nicht aufregt.“
Ihre Mutter schaut sie irritiert. an.
„Mutti, nicht böse sein. Aber wenn ihm das Essen nicht schmeckt oder die Wohnung ist für ihn nicht ordentlich genug, dann flippt er aus.“
Fast entschuldigend meint dann Christina: „Er braucht dann jemand, dem er die Schuld geben kann. Wenn er mich aber geschlagen hat, dann ist er wie ausgewechselt. Er weint dann und entschuldigt sich bei mir.“ Sie sieht ihre Mutter ganz intensiv an:
„Mutti, er ist unglücklich, DU bist unglücklich, und auch ich bin unglücklich.
Warum trennst DU DICH immer noch nicht von Papa?“
Die Mutter ist fassungslos über diese vorwurfsvolle Rede.
Dann fängt sie, wie immer, an zu weinen. Christina umarmt ihre Mutter und tröstend sagt sie: „Mutti, bitte sprich mit Opa.
Er hat doch mehr Geld wie wir. Vielleicht hilft er uns, wenn DU bereit bist, DICH wirklich von Papa zu trennen.“
Die Mutter schüttelt den Kopf. Mit verzweifelter schluchzender Stimme erwidert sie: „Ach Kind, ich bin nicht so mutig wie DU.
Traurig schaut sie Christina an und sagt dann ehrlich: „Ich bin einfach zu feige. Mein Vater war sehr böse auf mich, als ich mich entschlossen habe, DEINEN Vater zu heiraten. Der wird nur zu mir sagen, dass er mich gewarnt hat. Glaube mir, der freut sich nur darüber, dass er Recht behalten hat. Nein, die Blöße gebe ich mir nicht.“
Dann hoffnungsvoll:
„Vielleicht kommt ja DEIN Vater gar nicht mehr von Schweden zurück. Wenn er sich dort in eine Frau verliebt und sich scheiden lassen möchte, dann muss er für uns bezahlen.“
Sie schaut bittend Christina an.
„Bitte, Christina, habe Geduld. Vielleicht ändert er sich sogar in Schweden. Der verdammte Alkohol hat Schuld. Vielleicht trinkt er nicht mehr, wenn er wieder kommt.“
Christina gibt seufzend nach.
„Also gut, jetzt genießen wir erst einmal das Jahr ohne Papa.“
So ist es dann auch.
6
CHRISTINAS SIEBTES LEBENSJAHR – ZWEITE KLASSE
Durch das Jahr ohne ihren Vater wird Christina noch selbständiger und selbstbewusster. Ihre Mutter ist meistens bei der Arbeit, so dass sie nach der Schule ihren Tag selbst einteilen kann. Ohne Angst vor dem Vater.
Zwei Schulfreundinnen wohnen in ihrer Nähe. Gudrun in der Straße „Prinzessinentrift“ und Waltraud, auch wie Christina, am „Strichweg“. Sie gehen jeden Morgen zusammen in die Schule.
Auch der gemeinsame Rückweg ist nie langweilig. Aber bevor Christina zur Schule geht, trägt sie schon Zeitungen aus. Nicht mit einem Holz-Roller. Neiiiiiiiiiiiin. Mit dem hätte sie die Zeitungen gar nicht transportieren können. Sondern mit dem neuesten Modell. Mit Gummireifen. Christina ahnt, dass ihre Mutti dafür sehr viel Geld ausgegeben hat. Aber so kann sie sich mit den zwei Zeitungs-Taschen - rechts und links am Lenkrad - schneller fort bewegen. Christina steckt die Zeitung nicht in den Briefkasten. Sie klingelt stets und läuft die Treppe hoch.
Mit einem fröhlichen „Einen wunderschönen Guten Morgen“ überreicht sie dann die Zeitung. Als „Dankeschön“ erhält sie meistens eine Süßigkeit. Die Abonnenten lieben die kleine Christina. Ihre Tour endet täglich auf einem Bauernhof, wo sie mit den Tieren schmust. Doch dafür bleibt kaum Zeit.
Denn sie muss sich jeden Morgen sehr beeilen. Vor ihrem Zuhause wartet schon Gudrun, um sie auf den Weg zur Schule abzuholen. Gemeinsam holen sie dann noch Waltraud ab, die nur ein paar Häuser weiter wohnt.
Im Winter spielt Christina bei Waltraud mit anderen Kindern auf dem Dachboden. Dort ist es immer heimelig und warm. Mit sehr viel Stroh. Zuerst erledigt sie aber immer brav ihre Schulaufgaben.
Im Sommer wird bei Waltraud im Hof Federball gespielt. Mit zwei Jungs von gegenüber, die schon älter sind. Es wird ein Seil gespannt und dadurch wird das Federballspiel noch interessanter. Aber auch das Miteinander mit Gudrun im Sommer ist ein Genuss für Christina. Gudruns Eltern besitzen einen Strandkorb am Döser Deich. Gudruns und auch ihre Eltern haben ihr erlaubt, sich dort oft mit Gudrun zu treffen. Mit schwimmen, Ball spielen, Marienkäfer in einem Glas sammeln, die Kühe und die Kurgäste beobachten und über ihre Träume sprechen, wird es ihnen nie langweilig.
Weihnachten wird Christina als Zeitungsausträgerin mit einem großen Trinkgeld belohnt. Hundert-dreißig Mark. Ein großer Schatz. Doch leider benötigt die Mutter das Geld. Sie bittet ihre Tochter um ihr Verständnis. Christina ist ein ganz klein bisschen traurig. Sie hatte sich so gewünscht, das Geld zu sparen.
Es zur Sparkasse zu bringen.
Der Vater konnte „zum Glück“ nicht zur Bescherung anreisen.
Das Jahr 1956 ist überschattet von der Angst, nun bald wieder mit dem Vater zusammenzuleben.
In der Schule wird die Tafel von den Heften abgelöst. Nun benötigen die Schüler keinen Griffel mehr. Sie dürfen jetzt mit einem Füller ihre Hausaufgaben erledigen. Der Lehrer, Herr Ühlicke, wirft immer noch mit der Kreide auf die Kinder, die nicht zuhören. Christina geht aber immer gern zur Schule. Sie ist allgemein beliebt. Wenn sie von ihren Träumen erzählt, wird sie gutmütig belächelt. Fantasie ist ja nicht das Schlechteste.
Christina ist nun auch fest davon überzeugt, dass viele Dinge, die sie als kleines Kind vermeintlich erlebt hatte, wirklich nur ihrer Fantasie entspringt. Nicht die Wirklichkeit ist. Manchmal redet Christina mit ihren Eltern über Claudia. Dann kommen in ihr viele Erinnerungen hoch, über die die Eltern nur herzhaft lachten. Die Mutter sagt dann immer zum Vater: „Carl, hörst DU das? Von wem sie wohl eine so ausgeprägte Fantasie mitbekommen hat? Es muss einmal vor über hundert Jahren ein Vorfahr von uns mit diesem Fantasie-Gen auf die Welt gekommen sein. Von uns hat sie den Gen wenigstens nicht.“ Der Vater nickt dann nur.
Warum sollte Christina ihren Eltern misstrauen?
Doch eines ist ihr festes Ziel: „Ich werde sehr schnell die Schule und meine Lehre beenden und dann nie mehr abhängig sein.“
Wieso sie diese Gewissheit hat, weiß sie zwar auch nicht mehr.
Aber dieser Gedanke ist in ihrem Gedankengut fest verankert.
Dann kommt die Nachricht. Ende September 1956 wird ihr Vater aus Schweden für immer zurückkehren. Er hatte schon einen Arbeitsvertrag als Straßenbauarbeiter unterschrieben.
Ihre Mutter verdient nun noch ein bisschen mehr Geld dazu.
Durch einen kleinen Nebenjob. Früh am Morgen trägt sie Brötchen aus. Für die Bäckerei Kunz. Dadurch bekommt sie Reste vom Vortag, meistens Kuchen, und kann Christina jeden Morgen mit einem kostenlosen Frühstück überraschen.
Nun ist der Tag „X“ gekommen. Christina und ihre Mutter stehen in Sonntags-Kleidern am Bahnhof und erwarteten den Vater. Die Mutter begrüßt ihren Mann mit bangen Gefühlen.
Sie löst sich sofort aus seiner Umarmung. Christina stellt sich angstlos vor ihre Mutter und schaut ihrem Vater tief