Diese Karte stammt vom 28. Dezember 1942, also fast dasselbe Datum fünf Jahre zuvor, bevor mein Vater im Bahnhof nächtigte
Natürlich gab es an diesem Neujahrstag von Heiligenstadt aus keinen Zugverkehr, weshalb es, uns ausgenommen, auch keine weiteren Fahrgäste und damit auch keine Veranlassung gab, den Warteraum zu heizen. Für ein paar Stunden fanden wir etwas Wärme im Kino. Dort wurde in der Kindervorstellung ein Russenfilm gezeigt: „Admiral Nachimow besiegt die Türken“. Wir ließen es über uns ergehen. Anschließend rückten wir in einer Kneipe ein paar Stühle an den Ofen und tranken dazu, weil es nichts anderes gab, heißen Kinderkaffee.
Für die Nacht fanden wir in einem Durchgangslager für Kriegsgefangene eine Bleibe. Hier war gerade ein Transport aus Russland eingetroffen, der in die britische Zone weitergeleitet werden sollte. Ihre Entlassung aus der Gefangenschaft hatten sie offensichtlich ihrem miserablen Gesundheitszustand zu verdanken. Es waren ausnahmslos bleiche, abgemagerte Gestalten in verschlissenen Uniformen, darunter junge Burschen, nicht älter als wir, mit greisenhaften Gesichtszügen, mit dick angeschwollenen Beinen.
Relativ gut genährt und gekleidet, deshalb mit zwiespältigen Gefühlen, stand ich diesem Elend gegenüber. Im Überschwang des Sieges hatten mich die Russen im Mai 1945 nach Hause geschickt und nicht nach Sibirien. Hier hatte ich vor Augen, was mir dadurch erspart geblieben ist.
Am 2. Januar 1948 früh 4 Uhr fuhr der erste Zug ab Heiligenstadt in Richtung Sangerhausen. Dort mußten wir bis zur Weiterfahrt wieder neun Stunden warten. Wartezeit war Zeit für Gespräche. Die Warteräume in den Bahnhöfen waren überfüllt mit Reisenden. Es waren keine Vergnügungsreisenden und viele von ihnen hätten Abenteuerliches erzählen können.
Neben mir saß ein ehemaliger Landser. Er kam direkt aus Italien, war dort aus amerikanischer Gefangenschaft geflohen und wollte nun nach Hause. Ich mußte wieder an die Gefangenen denken, die aus Russland kamen, mit denen ich gestern in Heiligenstadt gesprochen hatte. Ein junger Mann borgte sich bei mir 20 Mark, um eine Fahrkarte für die Heimfahrt bezahlen zu können. Ich wußte, daß ich das Geld nie wieder sehen würde.
In Halle wieder Warten auf den Anschluß, dann in dreistündiger Fahrt in einem hoffnungslos überfüllten Zug nach Leipzig. Etwa 60 Stunden war ich unterwegs, als ich in den Morgenstunden des 3. Januar 1948 wieder zu Hause war.
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