Zwillingsgeburten waren selten und Drillinge wurden fast nie geboren. Jóanis ging zum Schafspferch, wo bereits die Kinder aus den verschiedenen Häusern aus Uppi við Garð waren. Alle Schafe und Lämmer grasten gemeinsam. Die Pforten in den Steinwällen waren geschlossen. Die Menschen arbeiteten zusammen. Die Kinder lernten von klein auf, ihr eigenes Lamm von denen der anderen zu unterscheiden. Ein Lamm, das sich nicht entwickelte, wurde mit nach Hause genommen und vor dem Hungertod bewahrt. Es wurde ein heimalamb, ein Hauslamm.
Sigrid, die Borghild an der Hand hielt, sagte: „Sieh, Vater, das kleine braune Lamm, es kann nicht aufstehen.“
„Ja, das ist richtig“, sagte Jóanis, „wir müssen es mit nach Hause nehmen, die Mutter hat nicht genug Milch.“ Er hatte mehrmals nach dem Lamm gesehen.
Es hatte die gleiche braune Farbe wie seine Mutter. Er ging zu ihm hin und nahm es auf den Arm, es war klein und viel zu leicht, ein kleiner Widder.
Die Kinder jubelten und liebten bereits den kleinen braunen Kerl, den sie adoptierten. Anna bereitete eine Nuckelflasche mit frisch gemolkener, verdünnter Kuhmilch zu.
„Merkt euch: zu Beginn darf das Lamm nur kleine Portionen bekommen, damit es keine Bauchschmerzen bekommt.“ Das Lamm schlürfte innerhalb weniger Sekunden die Milch aus.
Schwester sagte, dass es Bruno heißen und im Schuppen schlafen sollte. Alle Geschwister wetteiferten darum, ihm die Flasche zu geben, die er zehnmal am Tag brauchte.
Sigrid erwachte früh, stand auf und bereitete für Bruno die Milch in der Nuckelflasche zu. Er blökte vor Freude, und sein kleiner, brauner Schwanz wedelte hin und her und drehte sich wie ein Propeller. Er war ganz zahm.
Später am Tag nahmen die Jungen Bruno mit und banden ihn in der Nähe des Hauses an, wo er grasen konnte. Aksel war eifrig dabei, denn er sollte ihm die Nuckelflasche dort geben, wo er angebunden war. Hinterher spielten sie in der bøur, der Innenmark, dem kultivierten Land. Auf einmal musste Aksel groß. Er setzte sich hinter der Steinmauer in die Hocke und verrichtete sein Geschäft, so wie er es schon oft zuvor getan hatte. Er spürte, dass sich etwas im Po bewegte.
Plötzlich hörte Anna Aksels entsetzte Stimme durch das offene Küchenfenster. „Mama, Mama, garnarnir, die Därme, kommen aus mir raus!“
Mit der Hose unten bis zu den Knien kam er gekrümmt und humpelnd in die Küche.
„Mama, Hilfe, Mama, Hilfe!“
Sigrid und die anderen Anwesenden sahen, dass Aksel recht hatte. Ein langer, dünner Darm hing aus seinem Hintern heraus, wie eklig.
Anna untersuchte die Angelegenheit, es war ein ausgewachsener Bandwurm. Sie ging zum Herd und nahm die Feuerzange, die an einem Haken hing. Damit lockte sie sehr vorsichtig den Bandwurm aus dem Enddarm des Jungen. Sie musste äußerst vorsichtig sein, um den Kopf des Wurmes herauszubekommen, damit er nicht in Aksels Därmen weiterlebte. Der Bandwurm wurde in ein Wasserglas gelegt, so dass sie ihn sich ansehen konnten. Sie sahen etwas auf dem Glasboden, dass einem winzig kleinen Ei ähnelte, und glaubten, dass es ein Bandwurmei war. Gut, dass er es nicht in Aksels Darm ablegen konnte.
Die schrägen Berghänge, líir, grünten, und die Schafe und Lämmer wurden von der Innen- in die Außenmark getrieben, wo sie frei herumliefen.
Man konnte sich darüber wundern, dass sie nicht von den steilen Abhängen herunterfielen. Auf der nördlichsten Insel konnte es geschehen, dass es April, Mai, Anfang Juni schneite, und dann wurde Heu zu den Tieren gebracht.
Einige seltene Male verirrten sich die Schafe auf dem glatten Eis. Der steile Berghang und die schmalen Schafspfade, rás, konnten plötzlich so vereisen, dass es unmöglich war, Fuß zu fassen. Dann rutschten die Schafe den Berg herunter, und was danach geschah, hing davon ab, wo sie landeten. Sie konnten Glück haben und auf eine Grasböschung fallen und überleben. Die Bauern hielten ein Auge auf alle Schafe, kannten die Persönlichkeit und Gewohnheit eines jeden Tieres.
Wenn eins oder mehrere Schafe heruntergefallen waren, wo man nicht an sie herankam, wurden zwei Männer an den Klippen heruntergeseilt. Die Tiere liefen verstört herum. Die Männer fingen sie ein, banden ihre Beine zusammen, und ließen sie am Seil hochziehen und in Sicherheit bringen. Zum Schluss wurden sie selbst hochgeseilt und die Schafe in einen anderen Teil der Außenmark getrieben, damit es sich nicht wiederholte.
In der Außenmark war genug frisches Gras für Schafe und Lämmer, von dem sie leben konnten. Hier lebten die Schafe seit Jahrhunderten. An den Berghängen wurden niedrige Schutzställe aus Stein und mit Grasdach gebaut. Diese Ställe verschmolzen auf natürliche Weise mit dem Gras. Bei schlechtem Wetter suchten die Tiere diese Ställe von selbst auf.
Im Sommer liefen sie alle außerhalb der Einfriedung frei umher. Das Gras in der Innenmark sollte in Ruhe wachsen, um später als Heu gemäht zu werden. Im Winter waren die Schafe in der Nähe des Dorfes und man sah sie oft zwischen den Häusern herumlaufen.
Das Land war per Gesetz an die verschiedenen Bauern und Schafzüchter verteilt. Jóanis hatte Land von seinem Vater bekommen. Er besaß gemeinsam mit den anderen Kleinbauern einen hagapartur. Er war Fischer, aber auch Teilzeitbauer mit einer Kuh und sechs Schafen.
Zum Sommer hin war Bruno groß und stark geworden, näherte sich der Pubertät. Er stieß gerne mit den Hörnern, lief direkt auf die Kinder zu und wollte mit ihnen spielen, doch sie hatten jetzt Angst vor ihm, und das mit gutem Grund. Er wurde mit den anderen Schafen und Lämmern in die Außenmark gebracht. Hier lebte er ein freies Leben bis zu dem Tag, an dem er geschlachtet werden sollte. Alle Widderlämmer wurden geschlachtet, und Bruno sollte nicht zur Zucht eingesetzt werden.
Reka seyð – die Schafe werden zusammengetrieben
Hochsommer, Juli, die Lämmer waren groß. Jetzt sollten sie markiert werden, damit die Bauern wussten, welches ihre Schafe waren. Männer und Jünglinge aus dem Dorf gingen geschlossen in die Außenmark. Sie mussten alle Schafe und Lämmer in den Bergen finden. Unter lautem Rufen und mit Hilfe ausgebildeter, bellender färöischer Hütehunde wurden die Schafe die Berghänge hinuntergetrieben, hinein in den rætt. Ein rætt ist ein Schafspferch, umgeben von einer hohen Steinmauer mit einem Eingang.
Man hörte deutlich, wo sich die Schafe in den Bergen befanden und wie die Geräusche nach unten drangen. Es war ein Blöken, Hundegebell und die lauten Rufe der Männer. Kein Schaf entkam, selbst wenn es versuchte zu fliehen. Am rætt trafen Schafe und Männer auf lärmende Kinder und Frauen des Dorfes, die gekommen waren, um dem Geschehen beizuwohnen. Es wurde laut geschwatzt, man zeigte, wies und diskutierte, welches Schaf wem gehörte. Es herrschte eine besondere Stimmung, es brodelte vor Aktivität. Zwei Männer halfen sich jeweils, viele Männer waren gleichzeitig zu Gange. Schaf für Schaf, Lamm für Lamm, wurde sortiert, die vier Beine zusammengebunden, damit sie nicht treten oder weglaufen konnten. Die Lämmer wurden mit einer oder mehreren speziellen Kerben im Ohr markiert, eingeschnitten mit einem frisch geschliffenen, scharfen Messer, damit man sie wiedererkannte. Es blutete. Die erwachsenen Schafe wurden geschoren, die Wolle mit einem scharfen Messer an der Wurzel abgeschnitten, was leicht ging. Während des Fellwechsels saß die Wolle lose. Einige Schafe sahen sehr zerzaust aus, da sie bereits große Wollbüschel in der Außenmark verloren hatten, und den Rest wie eine lose Schleppe hinter sich her schleiften. Man half sich gegenseitig, und jeder nahm die Wolle seiner eigenen Schafe mit nach Hause. Jetzt wurde auch beschlossen, welche Schafe und Lämmer später in diesem Jahr geschlachtet werden sollten. Einige Schafe hatten ausgedient, hatten ihre Pflicht getan, sie hatten viele Lämmer zur Welt gebracht. Erwachsene, gesunde Lämmer