Der Farbendieb
Vor langer Zeit einmal, da gab es ein riesiges und sehr weites Land namens Farlo. Und in demselben wohnten die Lelos. Die Lelos waren zwar ein überaus beschäftigtes, jedoch auch ein ganz und gar freudloses, ja sogar unglückliches und bedrücktes Volk, das in einem farblosen Reich lebte, in dem alles ziemlich gleich und grau in grau aussah.
Nein, leben kann man eigentlich gar nicht wirklich sagen – sie existierten gewissermaßen nur, sie lebten gar nicht richtig. Am meisten fürchtete und mied man in Farlo aber die Vielfalt und die Ruhe und Stille.
Also war man ständig betriebsam, um auch stets möglichst viele materielle Gewinne wie Gold und Silber erzielen zu können. Denn dies war das höchste Ziel in dem Land. Es wurde auch nur eine Meinung erlaubt und es war dort nur eine einzige Denkweise erwünscht. Nämlich die von Idolos, dem obersten und alleinigen Herrscher von Farlo.
Er war ein auffallend kleiner, untersetzter und ziemlich dicker Herr mit Doppelkinn, der immer nervös umherlief. Und er hatte seinen mächtigen Palast, um den stets eine Schar schwarzer Raben kreiste, am großen Platz mitten in der Hauptstadt Impera errichtet. Unglaublich hoch stach das Schloss über allen anderen Gebäuden heraus.
Jeden Tag ging Idolos hinaus auf den großen Balkon seines Palastes, um dort vom Volk gesehen und bewundert zu werden.
Es schien, als würde der triebhafte Idolos von Tag zu Tag selbstsüchtiger und gieriger werden. Und so gierig, wie Idolos war, vermehrte er zwar sein Gold, aber er merkte dabei nicht, dass er immer farbloser und damit lebloser und schließlich Gefangener seiner eigenen Gier wurde!
Und den meisten Bewohnern war es auch ganz recht so, keine eigenen Gedanken zu haben und keine eigene Meinung. Sich der Ansicht der Masse anzupassen, um keine Probleme zu bekommen. So war es am einfachsten. Sie wussten auch gar nicht, wieso sie so gierig, geizig und misstrauisch dahinlebten. Man tat einfach das, was jeder tat. Und das, was man schon immer tat.
Ihre Gleichgültigkeit führte aber dazu, dass sich beinahe jeder sagte: Wozu sich großartig irgendwelche Gedanken machen zum Leben und dessen tieferem Sinn? Wozu hinterfragen, was die großen Herren des Landes entscheiden? Hauptsache ich habe meine Ruhe und bin gesund und werde reich und es geht mir gut. Was interessiert mich alles andere, ich könnte ja sowieso nichts ändern auf dieser Welt.
So wurden die Lelos mehr und mehr zu fürchterlich ichbezogenen und kalten, farblosen Lebewesen. Und sie taten den ganzen Tag das Gleiche, sie sammelten Geld und noch mehr Geld, und das nur für sich selbst.
So wie es auch Orcus tat. Er war ein Musterbeispiel für einen untertänigen und gehorsamen Bürger aus Farlo.
Entseelt stand er Tag für Tag noch vor Sonnenaufgang bei hellem Mondschein auf und eilte schnell und zielstrebig an seinen Arbeitsplatz. Dort blieb er dann möglichst lange, um auch möglichst viel Geld zu erwirtschaften. Zeit für seine Familie hatte er kaum und er interessierte sich auch nicht wirklich für seine Mitmenschen. In jedem sah er eine mögliche Gefahr, eine Bedrohung und auch einen Konkurrenten.
Er hatte nur eines in seinem Kopf und seinem Herzen, er arbeitete verbissen und hart und war andauernd von dem Zwang getrieben, mehr und mehr zu haben und zu besitzen. Freude und Ruhe kannte er nicht, denn er fürchtete ständig, jemand anders könnte besser sein und mehr verdienen als er und dann würde er irgendwann ersetzt werden. Und er würde schließlich zu den Schwachen gehören.
Nun war es aber so, dass die Schwachen und Armen sehr verachtet waren in Farlo, genauso wie die Alten und die Ausländer und Fremden, denn sie waren laut Idolos kaum zu etwas zu gebrauchen und nur unnützer Ballast zum Mitschleppen. Und solche Bürger wollte Idolos möglichst wenige haben im Lande. Schließlich sollte Farlo ja das reichste und mächtigste Land der ganzen Welt werden.
»Fünf und zwei macht sieben und zwei macht neun.«
Ganz beschäftigt zählte Orcus seine hart und sauer verdienten Münzen.
»Schon bald besitze ich einhunderttausend Taler«, dachte das rastlose und getriebene Männlein zufrieden und ging hastig weiter.
Falidal
Eines Tages erblickte ein kleines, zartes Geschöpf namens Falidal das Tageslicht in Farlo im Gebiet Umal. Ihr Name bedeutet: »Die Farben lieben das Leben.«
Falidal war aber von Anbeginn anders als die meisten Lelos. Sie bemerkte freilich, dass sie anders aussah, sie fragte sich nur ständig wieso wohl. Das Mädchen war nämlich eines der wenigen Wesen in Farlo, welches bunt und farbig war. Doch hatte ihr bisher noch niemand erklärt, was Farben überhaupt sind, weshalb es sie gibt und was es mit diesen auf sich hat.
Immerfort hatte sie ein fröhliches Lachen auf dem Gesicht und lustig wippten ihre beiden Zöpfe umher.
Falidal dachte und fühlte auch nicht wie die anderen und wie es sich angeblich gehörte. Sie hatte auch zu den meisten Dingen eine ganz andere Meinung. Als würde sie die Welt mit völlig anderen Augen sehen und verstehen.
Daher wurde das Mädchen aber auch immer mehr zur Außenseiterin in ihrer Heimat. Weniger deswegen, weil sie noch so klein war, als vielmehr, weil sie nicht bei den Dingen mitmachte, die in Farlo aber nun mal fast jeder machte. Und weil sie so sonderbar und anders war, mochte sie auch kaum jemand leiden.
»He, aus dem Weg da, hier bin jetzt ich und ich brauche diesen Platz, du hast hier nichts zu suchen!«, hieß es ständig. Oder: »Was willst du denn da – wir brauchen dich hier nicht, los, verschwinde endlich und geh nach Hause«, meinte ein Junge namens Grobian abweisend und gemein zu ihr.
So wurde das figürlich sehr zarte Mädchen ständig herumgestoßen. Alle bemerkten, dass Falidal anders war. Obschon sie auch nicht sehen konnten, dass sie bunt und farbig aussah, spürten sie doch ihre Andersartigkeit. Die Lelos, musst du wissen, konnten Farben nämlich nicht sehen. Besser gesagt, sie konnten Farben nicht mehr sehen. Diese Fähigkeit hatten sie schon vor langer Zeit verloren. Zumindest die meisten von ihnen. Selbst das Wort »Farbe« kannte in Farlo fast keiner mehr. So wie auch der Begriff »Freude« immer mehr verschwunden war.
Und dieses Gefühl, das Falidal den Lelos durch ihr Anderssein vermittelte, machte ihnen in Wahrheit große Angst. Darum wurde sie von den meisten Menschen abgelehnt, gemieden oder ausgegrenzt.
Falidal war zwar körperlich sehr zart und klein, doch war sie ein kluges und aufgewecktes Köpfchen mit einem mutigen und sehr mitfühlenden Herzen.
Keiner wollte aber wegen einer Freundschaft mit ihr in irgendwelche Schwierigkeiten kommen. Auch die meisten Erwachsenen kamen mit ihr nicht wirklich gut zurecht.
Deshalb war Falidal viel und oft alleine, saß nachdenklich an ihrem Lieblingsfenster, sang dabei ein selbst erfundenes Lied und träumte vor sich hin, während sie die Wolken beobachtete. Das Mädchen verbrachte auch eine Menge Zeit in der Natur.
Falidal hatte aber einen Kater, den sie sehr liebte, der immer bei ihr war und sie in dunklen Stunden oft tröstete.
Immer wenn Falidal bei ihren Freunden, den Bäumen, war, war auch ihr Kater namens Animus mit dabei.
Animus aber war kein gewöhnlicher Kater, denn er konnte sprechen und war dazu auch noch sehr klug.
»Komm schon, Animus, wir steigen bis zur Spitze der