Über den Missouri. Liselotte Welskopf-Henrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Liselotte Welskopf-Henrich
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Исторические приключения
Год издания: 0
isbn: 9783957840103
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Tagen aufgehört hatte zu essen, weil seine Organe unter dem Druck der Kette kaum mehr arbeiten konnten, und als er mit keinem Wort um das verweigerte Wasser zum Trinken bat, da hatte er von sich selbst geglaubt, dass er mit dem Leben abgeschlossen habe und gegen seine feindliche Umgebung nicht nur Gleichmut spiele, sondern auch im Innern völlig gleichgültig geworden sei. Als Roach mit dem Feldscher gekommen war, hatte der Gefesselte aber die Erfahrung machen müssen, dass noch etwas in ihm lebte, wovon er selbst nichts mehr gewusst hatte. Er hatte gar nichts gegenüber dem bärtigen Feldscher selbst empfunden. Aber als dieser ihn im Auftrag des Capt’n Roach anfasste, hätte der Gefangene den Anthony Roach niederschlagen mögen. Noch immer war der Indianer nicht so vollständig gebrochen, dass er die Stimme des Capt’n Roach hören und seine Gegenwart hätte ertragen können, ohne von Hass gepackt zu werden.

      Als die ersten Stunden der Nacht vergangen waren, begann der Gefangene darauf aufmerksam zu werden, dass etwas anders verlief als in den anderen Nächten. Roach hatte sich sehr früh zu Bett gelegt; der Dakota hatte die Schritte und das Quietschen der Zwischentür gehört; das waren Geräusche, die er genau kannte. Der Capt’n schnarchte, und der Gefangene unterdrückte mühsam sein Husten, weil er etwas Ungewöhnliches vernommen hatte und lauschen wollte. Der Wachposten, der sich wie jede Nacht im Kommandantenzimmer eingerichtet hatte, verließ das Haus eben wieder. Der Dakota hörte ihn hinausgehen und zuschließen. Zeit verging, aber der Posten kam nicht wieder.

      In dem Gefangenen sprang ein Argwohn auf, der ihn im Grunde Tag und Nacht beseelte. Er glaubte, dass Roach ihn ermorden lassen wollte. Er wartete im Stillen jeden Tag und jede Nacht auf einen Mörder. Warum war jetzt die Wache weggegangen? Sollte etwas geschehen, wovon der Kommandant dienstlich nichts gewusst haben wollte?

      Es musste um Mitternacht sein. Roach schnarchte immer noch.

      Die Tür zum Kommandantenzimmer wurde wieder aufgeschlossen. Es trat jemand ein und schloss wieder zu. Schritte ließen sich hören: Das waren nicht die Schritte des Wächters. Es war ein leichter, tastender Schritt. Ein Brett knarrte. Darauf war es wieder still, als ob jemand fürchtete, sich zu verraten.

      Der Dakota bewegte den Kopf. Seine wochen- und monatelangen Kopfschmerzen beeinträchtigten sein scharfes Wahrnehmungsvermögen, aber sein Wille zwang seine Gehörnerven und sein Gehirn, in diesem Augenblick zu funktionieren. Er horchte angespannt und nahm den nächsten vorsichtigen Schritt wahr.

      Die Vermutungen und die Stimmung des Gefangenen schlugen um. Eine derartige Vorsicht zu üben, hätte ein Mörder im Auftrag des Capt’n nicht nötig gehabt. Alle Hoffnungen, die der Gefangene lange und gewaltsam hinuntergewürgt hatte und auch jetzt niederhalten wollte, erhoben sich und überwältigten ihn.

      Wer war da oben? Was wollte er? Würde er den Deckel heben?

      An dem Deckel, der die Bodenöffnung zum Keller verschloss, wurde gearbeitet. Der Deckel bewegte sich ein wenig, fiel wieder zurück, als sei er schwachen Händen zu schwer gewesen, und bewegte sich von neuem. Er wurde ganz aufgehoben. Der Gefangene befand sich in einiger Entfernung von der Öffnung und konnte nicht hinaufsehen. Er hörte aber, wie die Leiter bewegt, und sah dann, wie sie langsam heruntergelassen wurde. Es erschienen zwei kleine Füße in hohen Reitstiefeln, die von Sprosse zu Sprosse abwärts stiegen.

      Die Dunkelheit war von einem schwachen Schimmer des Mondlichts aufgehellt. Der Dakota erblickte ein Mädchen. Sie hatte den Kellerboden erreicht, sah sich um und ging auf den Gefangenen zu.

      »Du kennst mich, Tokei-ihto«, sagte sie einfach. »Ich bin Cate, die Tochter des Samuel Smith. Mein Vater ist gestorben. Ich gehe jetzt auch fort. Tobias hat mir den Auftrag gegeben, dir vorher etwas zu sagen.«

      »Ja?« Das Wort war mehr ein Bewegen der Lippen als ein Ton.

      »Der Krieg ist zu Ende. Der Befehl, dich zu entlassen, ist schon da. In spätestens vierzehn Tagen hat Roach auf seine Rückfrage die Bestätigung, dass er ihn unbedingt ausführen muss. Tobias ist der Bote. Du wirst frei.«

      Das Wort »frei« traf den Gefangenen wie ein Kriegsruf, der den Mann aus dem Schlaf weckt; die Willenskraft des Häuptlings sprang sofort auf, und ohne Gefühlen Raum zu geben, konzentrierte er sein Denken. Er musste fragen, er konnte fragen; das war seine erste Waffe, nach der er zu greifen vermochte. »Wie hat der Krieg geendet?«

      »Mit eurer Niederlage, Häuptling. Es ist wahr, dass ihr erst große Siege errungen habt. Eure Häuptlinge Sitting Bull und Crazy Horse haben die Truppe des Generals Custer vernichtet, und Custer selbst ist gefallen. Nur ein einziger Scout und ein Maultier entkamen. Auch die Generale Crook, Benteen und Reno habt ihr geschlagen, und sie mussten sich zurückziehen. Aber dann ist euren Männern die Munition ausgegangen. Sie mussten weichen.«

      »Wo ist Red Fox?«

      »Zur Agentur geritten. Er wird dort Dolmetscher.«

      »Was macht Adams?«

      »Er ist entflohen, als sie seine Eisenfeile bei dir fanden. Er geht nach Kanada. In den Staaten, wo sein Vater ermordet wurde, will er nicht bleiben.«

      »Sein Vater ermordet? Wie geschah das?«

      »Sie haben dem alten Mann die Farm weggenommen, weil er das Land, das er von den Dakota gekauft und das er urbar gemacht hatte, nicht noch einmal bezahlen konnte und auch nicht noch einmal bezahlen wollte. Er sagte, es sei Betrug. Als die Dakota vertrieben waren und die Langmesser kamen, hat er sich mit der Flinte zur Wehr gesetzt. Dann floh er: Sie haben ihn aufgegriffen und haben ihn nach ihrer Sitte mit heißem Teer beschmiert und mit Federn beklebt und gehetzt, bis er tot war. Auch die weißen Männer verstehen zu martern.«

      »Das weiß ich. – Wie wird Adams in Kanada leben?«

      »Er will sich Fallen leihen bei der Pelzkompanie und will mit Thomas und Theo zusammen als Biberjäger arbeiten. Wenn er wieder Land bekommt, will er Vieh züchten und ackern. Sein Schicksal ist wie das eines roten Mannes – vertrieben ist er und wenig geachtet.«

      »Aber dennoch will er kein Indianer sein. So sagte er mir einmal.«

      Cate dachte nach.

      »Die Haut des Adams ist weiß, und seine Augen sind blau, aber heute wäre er euer Bruder, wenn er bei euch leben dürfte. Er darf es aber nicht. Die Grenzen der Reservation sind für Weiße verschlossen.«

      »Hält er sich noch in der Nähe auf?«

      »Ja. Er wartet mit Thomas und Theo auf mich.«

      »Adams, der solche Worte gesprochen hat, wie du sie mir berichtest, wollte uns dennoch verachten, weil wir nicht den Pflug führen und Vieh züchten.«

      »Aber das würdet ihr lernen«, erwiderte Cate. »Wie gern würde Adams euch das heute lehren, wenn es ihm erlaubt wäre.«

      Im Hof ließen sich Schritte vernehmen. Das Mädchen zog sich zu der Leiter zurück. Die Schritte entfernten sich.

      »Gehe jetzt!«, forderte der Gefangene Cate auf. »Du darfst nicht entdeckt werden. Dein Mut war groß genug.«

      »Ich gehe. Du bist unser Bruder. Wenn du frei wirst, komme nach Kanada. Dort verfolgt dich niemand. Wir werden an der Grenze in der Nähe der Waldberge sein.«

      »Sage dem Tobias: Ich will um mein Leben kämpfen. Hau. – Aber nun gehe.«

      »Lebe wohl!« Cate stieg schnell die Leiter hinauf und zog sie hoch. Sie ließ den Deckel wieder herunter. Der Gefangene vernahm noch ihre leichten, vorsichtigen Schritte. Schließlich hörte er, wie sie die Außentür öffnete und schloss. Dann war alles still.

      Der Dakota gedachte der Nachrichten, die ihm Cate Smith gebracht hatte. Er war erst vierundzwanzig Jahre alt, und er sah noch einmal eine Aufgabe vor sich.

      Von Stund an begann er um vierzehn Tage Leben zu ringen, um die Tage und Nächte bis zu jenem Moment, in dem Roach ihn freilassen musste.

      Der Gefangene straffte seine Muskeln gegen den Druck der Kette. Selbst wenn er sich erbrechen musste, aß er, um keinen Anlass zu geben, dass der Wächter ihm wieder den Becher mit Wasser verweigerte. Mit eiserner Anstrengung hielt er einen regelmäßigen Wechsel von Wachen und Schlafen ein.