Der Wende-Journalismus. Verraten und verkauft?. Martin Naumann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Naumann
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783957444448
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kann. Wir hatten diese Freiheit nicht, weil es nur die eine Partei gab, ob sie nun SED, CDU oder sonst wie hieß. Wollen sie uns das zum Vorwurf machen?“

      „Natürlich nicht, aber wenn man die Zeitungen vor der Wende liest, kann man doch nur mit dem Kopf schütteln, haben Sie sich dabei wohlgefühlt?“

      „Nein bestimmt nicht. Und wenn die Demonstranten Pressefreiheit forderten, war damit bestimmt auch Freiheit für die Journalisten gemeint. Doch eine Gegenfrage: Fühlen Sie sich wohl bei der Lektüre bestimmter Zeitungen, mit denen nun auch der Osten überschwemmt wird?“

      Doch Meisel fühlte sich nicht in die Enge getrieben, er wehrte ab: „Wir wollen hier doch nicht von der Boulevardpresse reden.“

      Conrad trank den letzten Schluck Kaffee aus und sagte: „Immer wieder höre ich Vorwürfe, was wir alles falsch gemacht haben, nie ein Wort, was vielleicht besser war oder wenigsten Anerkennung, dass die Wende von innen heraus kam. Es ist doch eine Ironie der Geschichte, dass der im Wohlstand Lebende seine nach langer Irrfahrt endlich gelandeten Brüder und Schwestern verantwortlich machen will für den Sturm, der sie ans andere Ufer trieb, von wo aus sie nun mit eigener Kraft zurückgefunden haben.“

      Und weil Meisel auf dieses Bild nicht antwortete, aber auch keinerlei Anstalten machte zu gehen, wurde er noch eine Spur abweisender, ja er gab sich direkt Mühe, seinen Worten einen unfreundlichen Klang zu geben, als er sagte: „Wir sind also angekommen. Doch wenn ich jetzt das Heer der Wiedereinsteiger, Banken, Versicherungen, Gebrauchtwagenhändler, Großverkäufer, der kleinen und großen Betrüger sehe oder gar die Treuhand, den radikalsten Arbeitsplatz-Vernichter in der Geschichte Deutschlands, so muss ich zu dem Schluss kommen, dass wir uns aus eigener Kraft befreit haben, nur um anschließend unter die Räuber zu fallen.“ Na, wenn das nicht gesessen hat, dachte Conrad, den bin ich los.

      Doch Meisel hatte sich in der Gewalt, er ließ sich nicht anmerken wie wütend er auf Conrad war, der, mit bester Westtechnik ausgerüstet, ihn so heftig anging, anstatt dankbar zu sein. Und so antwortete er, ohne die Stimme zu heben: „Ich bin hierher gekommen, um für meine Zeitung über den Aufschwung Ost zu berichten, Ich sehe diesen Aufschwung“, und mit weit ausholender Handbewegung in den öden Saal hinein meinte er die neue Technik, „den Sie offenbar nicht wahrhaben wollen. Man könnte fast meinen, Sie wollen mich provozieren; also jetzt ehrlich: Wie schätzen Sie die gegenwärtige Entwicklung ein?“

      Malheur, dachte Conrad, das ist eben ein hartgekochter Wessi, der zuckt mit keiner Wimper, obwohl er eben indirekt zu den Räubern gerechnet worden war.

      Ja die Zeit – wie sollte er die Zeit einschätzen, jetzt wo alles im Umbruch war, wo sich die Werte in ihr Gegenteil verkehrten. Etwas Positives war nun negativ und etwas Negatives folgerichtig positiv. Ein Lehrer, der nach dem Hochschulstudium als Lehrer nicht tauglich war, was vorzüglich als ideologische Verweigerung ausgelegt werden konnte, war nun reif für einen Ministerposten. Ein Arbeiter mit zwei linken Händen und Bummelschichten, der also nie ausgezeichnet werden konnte, marschierte nun unbelastet in die Freiheit, die ihn allerdings wie beim Rodeo abwerfen wird. Ein Held der Arbeit, der diesen Titel nicht wegen fleißiger Teilnahme am Parteilehrjahr bekommen hatte, sondern wegen seiner Fähigkeit, aus Schrott noch Qualität zu machen, war nun verdächtig und arbeitslos. Ein Hochschulabschluss war jetzt vielleicht keiner mehr. Ein Offizier der NVA fand sich in der Bundeswehr wieder, aber um einige Dienstgrade degradiert, obwohl er mit seiner russischen MIG 29 ebenso schnell war wie sein westdeutscher Kollege mit der amerikanischen F 14. Die Lehrer hatten das falsche Fach studiert, den Arbeitern wurde niedrige Produktivität bescheinigt. Ein reparaturbedürftiges großes Mietshaus, das in der DDR nichts als Ärger eingebracht hatte, war nun plötzlich im geeinten Deutschland eine Million wert. Und immer bestimmte der Westen, was gut oder böse, was falsch oder richtig zu sein hatte.

      Die Feindbilder waren weg, damit aber auch eine wichtige Triebkraft, es mussten neue her. Da kam das allgegenwärtige Gespenst der Stasiakten gerade recht. Jeder konnte angeklagt werden, nicht gerade durch ein Gericht, da war man zu sehr Rechtsstaat, das ging viel besser durch die Medien, durch selbsternannte Tribunale oder ganz einfach durch die Personalchefs. Und es musste nicht eine Schuld bewiesen werden, sondern der Delinquent seine Unschuld. Justitia stand Kopf. War das der neue Rechtsstaat? Und an der Spitze der modernen Inquisition stand ein dreihundert Jahre zu spät geborener Diener der Kirche, der, mit heiligem Schwert um sich schlagend, den Schriften der Täter mehr glaubte als den Worten der Angeklagten und an den Pranger gestellten. Natürlich waren darunter Leute, die manche Karriere zerstört hatten und die sogar manchen ins Gefängnis gebracht hatten. Aber jede Bagatelle wurde nun aufgebläht und wieder Karieren vernichtet, manchmal zum Schaden der Gesellschaft.

      Conrad hütete sich, diese Gedanken preiszugeben, das würde der Wessi nicht verstehen wollen, und so sagte er stattdessen: „Wie soll ich die Zeit einschätzen? Als die Wiedervereinigung so plötzlich und unerwartet kam, da zeigte sich Misstrauen und Unbehagen bei den europäischen Nachbarn und in Übersee. Wenn sich die reiche Bundesrepublik mit der DDR vereinte, die von sich glaubte, sie sei der zehntmächtigste Industriestaat, was Sie doch bestimmt auch angenommen haben, so konnte wohl ein neuer Staat entstehen, der allmächtig zu werden drohte; und sind die Deutschen nicht gebrandmarkt? In Wirklichkeit aber wurde die DDR verschluckt und die Bundesrepublik hat schwer daran zu verdauen. So hat heute diese Angst niemand mehr und das liegt nicht an dem Einsatz der Bundesrepublik für ein geeintes Europa, sondern am Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft, was für diesen Teil Deutschlands so eine Art verspäteten Morgentauplan bringt. Der Bundeskanzler hat in Leipzig blühende Landschaften versprochen, er hat nicht gelogen, denn auf den unbestellten Feldern steht das Unkraut in prächtiger Blüte. Jetzt werden die Reichen reicher, die Armen ärmer, die Fleißigen fleißiger, die Gescheiten gescheiter, die Dummen dümmer, die Erfolgreichen werden noch erfolgreicher sein, die Einsamen werden einsamer, die Kriminellen krimineller und die Karrieristen? Sie werden noch schnellere Pferde finden.“

      „Wollen sie etwa das alte System wieder haben?“, fragte Peter Meisel mit Schärfe in der Stimme: „Was hat denn die DDR hinterlassen? Marode Betriebe, Städte, die sich kaum noch sanieren lassen, eine vergiftete Umwelt, allein schon dafür sind viele Milliarden nötig, dazu kommt die zerschlissene Infrastruktur, Telefonanlagen, die im Museum stehen müssten und Straßen, die den Namen nicht verdienen.“

      „Nun, da muss ich Ihnen recht geben, ich will weder das alte System wieder haben noch will ich die 40 Jahre verfehlte Politik wegreden. Wir haben viel gewonnen, aber auch etwas Entscheidendes verloren, die Menschlichkeit, jetzt zählt nur noch das Geld.“

      Da fuhr Meisel hoch: „Menschlichkeit? Sie wollen bei dem Unrechtsstaat doch nicht von Menschlichkeit reden? Das ist ein starkes Stück.“

      „Warum nicht? Eben gerade deshalb! Und damit meine ich beispielsweise das kameradschaftliche Verhältnis am Arbeitsplatz, weil da niemand Angst vor Entlassung haben musste, war auch keiner des anderen Teufel. Und warum glauben Sie, wurden in der DDR trotz der Abschaffung des Paragraphen 218 mehr Kinder geboren als in der alten Bundesrepublik? Es gab sogar einen leichten Geburtenüberschuss! Weil die Partei das wollte? Nein, soweit ging ihr Einfluss nun wieder nicht. Aber die Familie hatte einen höheren Stellenwert. Die Frauen brauchten keine Angst um ihren Arbeitsplatz zu haben, heute werden sie als erste entlassen. Und die Sorgen um ihre Kinder waren geringer als sie es jetzt sind. Ein Staat ohne funktionierende Familie verspielt seine Zukunft.“

      „Ja, und dann ab in die Krippe mit den Kindern, wo sie frühzeitig von der Partei-Ideologie beeinflusst wurden. Und auf die gesicherten Arbeitsplätze brauchen Sie sich auch nichts einzubilden, das war doch nur versteckte Arbeitslosigkeit.“

      „Mit der Krippe, das war keine gute Lösung“, gab Conrad zu, „doch mit der Beeinflussung ist das so eine Sache; wie werden denn jetzt die Kinder beeinflusst? Weshalb nehmen denn die Gewalt an den Schulen und die Jugendkriminalität so erschreckend zu? Weil es ihnen im Fernsehen vorgespielt wird. Und dann finden sie eben nichts dabei, kleine Kinder zu töten, wieder ein vortrefflicher Stoff für die Medien, die erst die Gebrauchsanweisung dazu geliefert haben. Und da haben die Kinder Frust, weil ihre Eltern arbeitslos sind, weil wieder die Konsumbedürfnisse nicht befriedigt werden können, weil jetzt Geld das Maß aller Dinge ist. Mit der versteckten Arbeitslosigkeit haben Sie recht, ich möchte Ihnen dennoch eine