Der Wende-Journalismus. Verraten und verkauft?. Martin Naumann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Naumann
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783957444448
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der Eckkneipe gekommen und zählte jetzt die Fahnen, die in eisernen Ständern steckten.

      „Die wird doch keiner wegnehmen“, sagte Conrad, bei einer DDR-Fahne konnte er sich das nicht vorstellen.

      „Doch, die klauen wie die Raben“, entgegnete der Sekretär, „wenn sie wenigstens ihre Fenster damit schmücken würden, aber nein, sie zerbrechen die Stiele oder stecken sie an die öffentlichen Toiletten.“

      Na schön, sollte er seine Fahnen zählen, das war nichts für die Berichterstattung, und so eilte Conrad in die Redaktion.

      Aus dem Mittagessen wurde natürlich nichts. Er klemmte sich eine Scheibe Brot zwischen die Zähne und eilte in die Innenstadt, um das bunte Treiben der Markttage, die dem 40. Jahrestag ein festliches Gepräge geben sollten, zu fotografieren.

      Auf der Bühne am Markt traten Breaktänzer auf und sie erhielten großen Beifall für ihre amerikanische Subkultur, wie die Funktionäre sagten. Früher wäre das verboten worden, aber auch die Liberalisierung in der Unterhaltung ließ sich nicht mehr aufhalten, wenn auch argwöhnisch von der Stasi beobachtet. Doch die jungen Leute hatten ein Klubhaus gefunden, das der Eisenbahner, das ihnen Trainingsmöglichkeiten gab. Es war bemerkenswert, was sie gelernt hatten, denn eigentlich waren das keine Tänzer, sondern ganz raue Draufgänger, die vorher nicht wussten, wohin mit ihrer Kraft. Aber anstatt auf den Fußballplätzen zu randalieren, hatten sie für sich den Breakdance entdeckt. Das waren Lehrlinge, Arbeiter aus einfachem Milieu; Intelligenz oder politisch Engagierte waren nicht darunter, denn welch geistig durchgebildetes Haupt möchte sich wohl im Kopfstand rasend um seine Achse drehen?

      Auf der kleinen Bühne am Eingang zur Petersstraße spielte die Lose-Skiffle-Gemeinschaft poppige Folklore. An sich nichts besonderes, das war erlaubt, den englischen Text verstand sowieso keiner. Aber die Ansage: „Wir singen jetzt ein Lied für ein inhaftiertes Mitglied“, war stark, denn sie würden kein Lied für ein Mitglied vortragen, das eine wirkliche Straftat begangen hatte, also Diebstahl, Unterschlagung, schwere Körperverletzung. Das umstehende Volk nahm das auch nicht an, denn es klatschte Beifall, es verstand. Und die unauffälligen Herren, in ihren leichten Mänteln, bewaffnet mit Regenschirmen, als ob sie permanent mit einem Unwetter rechnen würden, hatten glatte unbeteiligte Gesichter, schlechte Kundschafter, denn sie klatschten nicht. Aber sie schritten auch nicht ein, ganz im Gegensatz zum vergangenen Sommer, als plötzlich Straßenmusikanten aufgetaucht waren und in der Innenstadt spielen wollten. Das war verdächtig, denn das war nicht die FDJ, sondern es konnten irgendwelche Rattenfänger sein. Wer hatte die Texte kontrolliert, woher kamen die Leute? Was wollten sie? Hatten sie überhaupt eine Genehmigung? Nein! Also verbieten, wo kämen wir hin, wenn jeder spielen und singen könnte, was er wollte.

      Die Zurückhaltung der unauffälligen Herren konnte darin begründet sein, dass ihnen die knisternde Spannung nicht entgangen war, die über dem Markttreiben lag. Eine Machtprobe stand bevor, das Wort gegen bewaffnete Gewalt. Der stellvertretende Chefredakteur hatte gesagt, es würden Informationen vorliegen, dass konterrevolutionäre Elemente versuchen wollten, die Markttage zu stören, wahrscheinlich würden sich die Vorgänge wieder um die Nikolaikirche konzentrieren.

      Konterrevolution? Wollte sie den Bürgern die Festfreude nehmen? Konnten die Menschen überhaupt Festfreude empfinden, wo in jedem Bekanntenkreis, bald in jeder Familie Plätze leer blieben? Wenn diese Massenflucht das Werk der Konterrevolution war, dann saß diese in Berlin, in den höchsten Ämtern, denn die Situation hatte nicht das Volk verschuldet, sondern die Führungsspitze mit ihren Hofschranzen.

      Also an der Nikolaikirche stand die Konterrevolution und der gute Staatsbürger ging da nicht hin und weil der Journalist ein besonders guter Staatsbürger zu sein hatte, hatte er erst recht nicht hinzugehen. Wenn etwas mitzuteilen war, kam es von der staatlichen Nachrichtenagentur, abgesegnet von Joachim Herrmann, dem Pressezaren. Anscheinend war Conrad kein besonders guter Staatsbürger, natürlich ging er hin. Er sah das als seine persönliche Pflicht an, wenn er sich mit einigem Recht auch ein Dokumentarrist nennen wollte. Man könnte ihn festhalten, er würde seinen Presseausweis zeigen, das genüge nicht, wo ist der Auftrag? Ihm war klar, dass ihn die Redaktion, wenn es zu Zwischenfällen käme, nicht schützen würde. Lächerlicher Gedanke. Sie würden sagen: Tut uns leid, wir haben dem Reporter diesen Auftrag nicht gegeben.

      Nur wenige Schritte vom Markt entfernt, kam er in eine andere Welt. Die Grimmaische Straße war vollgestopft, überall standen Menschengruppen, vor allem Jugendliche, aber auch Familien. Alle starrten in die Ritterstraße. Großes Gebrüll erhob sich, Bewegung kam in die Menschen, sie flohen vor etwas, das nicht zu erkennen war. Sie stolperten über Bänke, trampelten Grünpflanzen nieder. Conrad hörte dumpfe Schläge und ein eigenartiges Trommeln. Da sah er sie und fühlte sich um Zweittausend Jahre zurückversetzt, eine Szene aus der Antike. Männer in grünen Uniformen trugen Helme mit geschlossenem gläsernem Visier und ledernem Nackenschutz. Sie hielten helle Schilde vor sich, Schlagstöcke baumelten. Allein schon diese Ausrüstung war eine Provokation und bedeutete, dass der politische Gegner als Steinewerfer eingestuft wurde. Aber es flogen keine Steine, obwohl die Menschen auf einem wahren Munitionsdepot standen, so hätte man die Kieselsteine der Wasserspiele bezeichnen können. Die Polizei sperrte die Grimmaische Straße ab. Was sollte das werden? Niemals zuvor hatte es einen solchen Polizeieinsatz gegeben. Das System der Erziehung, Bevormundung, Gängelei und Bestrafung hatte perfekt funktioniert, so perfekt, dass die Menschen nur einzeln den Widerspruch wagten. Zum Beispiel mit der Abgabe eines Ausreiseantrages oder indem sie nicht zur Wahl gingen, was trotz Wahlgeheimnis eine Information an die Arbeitsstelle zur Folge hatte. Oder indem Wähler sogar die Stimmzettel öffentlich durchstrichen, was als staatsfeindlicher Akt angesehen wurde. Und sie waren einzeln in Gewahrsam genommen worden, wenn sie offen gegen den Staat antraten. Jetzt aber protestierten tausend junge Leute schon allein durch ihre Anwesenheit. Was wollten die Menschen an der Kirche?, Und warum wollte sie die Polizei von dort vertreiben? Die Kirche hatte geschlossen, den staatlichen Feiertag überließ sie allein dem ungeliebten Staat; die Konterrevolution konnte sich also dort nicht verstecken. Aber diese Kirche war zum Symbol der aufkeimenden Bürgerrechtsbewegung geworden und jeder, der ihre Nähe suchte, war verdächtig. Also vertreiben!

      Erst waren es wohl ein Dutzend, die sich versammelt hatten, argwöhnisch von der Stasi beobachtet. Das konnte doch nur eine Provokation sein, um den Feiertag zu stören, da musste Polizei her. Doch die Vertreibung erreichte genau das Gegenteil, die Jugendlichen wollten gegen den Stachel lecken und hier konnten sie es, sie ließen sich nicht vertreiben. Hinzu kamen zufällige Passanten, junge Leute meist, die zunächst nicht wussten, um was es eigentlich ging, es wurden immer mehr. Die Polizei forderte Verstärkung an. Auf den Dächern der umliegenden Gebäude drehten sich die Überwachungskameras, die ihre Bilder in den Stab der Volkspolizei übertrugen. Die Alarmstufe wurde ausgerufen, Mannschaftswagen fuhren auf und Kirche und Vorplatz wurden abgesperrt. Da standen sich nun die Fronten gegenüber und keine Partei wusste, was das werden sollte.

      Plötzlich lief ein junger Mann auf die Postenkette zu, er wurde zusammengeschlagen und unter ohrenbetäubenden Protestrufen nach hinten abtransportiert. Nach dieser Heldentat zogen sich die Polizisten wieder in die Ritterstraße zurück, wo inzwischen die Hauptmacht stationiert war. Dort stand auch ein Lastwagen mit vorgespanntem Räumschild. Das lästige Volk sollte wohl weggeschoben werden?

      Die Nikolaistraße war ebenfalls abgesperrt. Junge Bereitschaftspolizisten, Wehrpflichtige, standen Auge in Auge mit der aufgebrachten Menge, die versuchte, mit den Polizisten zu reden: „Warum seid ihr hier?“ „Geht nach Hause!“ Die Polizisten waren verlegen, sie wussten nicht, was sie antworten sollten, sie hatten einen Befehl auszuführen und man sah, dass sie Angst hatten. Aber immerhin, einzelne Worte wurden gewechselt.

      Zeit zum Nachdenken blieb nicht. Wieder flüchtende Massen, wieder nachstürmende Polizisten, die eine Kette in Richtung Altes Rathaus bildeten. Dabei trommelten sie mit ihren Gummiknüppeln auf die Schilder, es war wie das Imponiergehabe der Gorillas, sie wollten sich Mut machen und gleichzeitig abschrecken.

      Doch sie schreckten niemanden ab. Jedes Vorgehen war wie ein Schlag ins Wasser. Die Menge teilte sich, flutete auseinander, um dann wieder zurückzubranden, Es bildeten sich Sprechchöre: „Schämt euch was!“ und „Wir bleiben hier!“ Das war eine Antwort an Honecker, der gesagt hatte, es sei um keinen schade,