„Warum nicht?“
Da war es wieder. Wie ein Hammer schlug das Wort auf ihren Kopf. „Du wirst dort viele Kinder kennenlernen.“ Frau Jäger sagte das mehr, um sich selbst zu beruhigen. Was erzählte sie da eigentlich? Betrog sie sich nicht selbst? „Gestern hat die Kindergärtnerin angerufen. Sie freut sich sehr auf dich.“
Auch Herrn Jägers Gedanken drehten sich, während er das Auto ans Ziel brachte, nur um dieses eine Thema. Sein Beruf nahm ihn voll in Anspruch. Als Pfarrer setzte er sich mit ganzer Kraft für seine Kirchengemeinde ein. Für die Familie blieb wenig Zeit. Und nun brach sein Sohn in eine Welt auf, die politisch gesehen dem Elternhaus entgegenwirkte, dessen war er sich sicher. Notgedrungen musste er die Erziehung seines Kindes dem Staat überlassen.
Das Gespräch war verstummt. Das Surren des Schwungrades in Uwes Spielzeugauto vermischte sich mit dem Motorengeräusch des Trabants.
Immer wieder waren es dieselben Fragen, die den Eltern durch den Kopf gingen. Es gab keine Alternative zu der Entscheidung, ihren Sohn ins Internat zu geben. Zum Glück wohnten sie in der Nähe. Zunächst blieb abzuwarten, wie sich der Junge einleben würde.
Trotz des einsetzenden Berufsverkehrs kamen sie gut voran, bis sie wenig später vor dem Eingang der Blindenanstalt an einem Pförtnerhäuschen hielten.
„Darf ich Ihnen behilflich sein?“, fragte ein älterer Herr, dessen Gesicht an einem kleinen Schiebefenster erschien.
„Wir möchten zum Kindergarten“, sagte Herr Jäger.
„Fahren Sie immer geradeaus. Nach etwa hundert Metern sehen Sie ein großes Gebäude.“
Langsam rumpelte das Auto den mit Kopfsteinpflaster belegten Weg entlang, bis das vom Pförtner beschriebene Gebäude zwischen einigen Bäumen erkennbar wurde. Aus einem offenen Fenster klang das Lachen von Kindern herüber.
„Da sind wir.“ Herr Jäger öffnete die Fahrertür. „Am besten ist es, wenn wir zusammen ins Haus gehen.“
Seine Frau öffnete ihre Tür und stieg, gefolgt von Uwe, aus dem Trabant.
Zögernd ging die Familie zum Eingang des Hauses. Die Mutter legte Uwes Hand auf ein Geländer und stieg mit ihm eine breite Steintreppe hinauf bis zu der großen Eingangstür, durch die sie das Gebäude betraten.
Eine ältere Frau kam strahlend auf die Besucher zu. „Sie sind bestimmt Familie Jäger. Kommen Sie bitte herein. Ich bin Frau Möllenberger.“ Sie führte die Neuankömmlinge in ihr Dienstzimmer. „Nehmen Sie doch Platz.“
Die Eltern setzten sich mit Uwe auf ein großes Sofa, während die Kindergärtnerin gegenüber der Familie an ihrem Schreibtisch Platz nahm. Prüfend schaute sie Uwe an. In ihrem Beruf hatte sie gelernt, Kinder einzuschätzen, und sie sah gleich, dass der Kleine es nicht leicht haben würde. Er machte auf Frau Möllenberger einen äußerst sensiblen Eindruck. Im Gruppenbuch stand über ihn, dass er mehrmals im Krankenhaus, also oft von zu Hause fort gewesen war. Das würde sein zukünftiges Leben im Internat nicht leicht machen. Er schien in sich gekehrt zu sein, und da war Fingerspitzengefühl gefragt.
Nach einer eingehenden Unterhaltung, in der auch die Formalitäten geklärt worden waren, drängte Herr Jäger zum Aufbruch. Leise begann Uwe zu weinen. Frau Jäger nahm ihn fest in ihre Arme. Diesmal war es nicht die Trennung, sondern das Heimweh des Jungen, das sie so anrührte. Wie hätte sie ihr fünfjähriges Kind richtig auf diesen Moment vorbereiten sollen?
Langsam gingen alle zum Auto. Herr Jäger drückte seinen Sohn zum Abschied fest an sich. Dann stieg er mit seiner Frau in den Trabant und fuhr langsam davon.
Mit Tränen in den Augen stand Uwe da. Dies war der Beginn eines neuen Lebens.
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