Die schwarze Erleuchtung des John Gray – Einführung von Dietmar Hansch
Über Jahre schon hatte ich es geahnt und befürchtet. Und auch heute noch kann und will ich es eigentlich nicht akzeptieren. Entsprechend hart hat es mich dann getroffen, als ich meine düstersten Ahnungen schonungslos auf den Punkt gebracht sah – in einem Buch des bekannten britischen Sozialphilosophen John Gray (2010) mit dem Titel „Von Menschen und anderen Tieren. Abschied vom Humanismus“. Nach Gray machen wir uns über unser Menschsein eigentlich nur Illusionen. Wir sind keine überwiegend moralisch handelnden autonomen und willensfreien Subjekte. Vielmehr werden die meisten von uns zumeist von Instinkten beherrscht und getrieben, wie andere Tiere auch. Wo immer man hinschaut – ob in die Wissenschaft, die Wirtschaft, die Kultur oder die Politik – humanistische Werte wie Gerechtigkeit, Wahrheit, Schönheit oder Güte, all das sind nichts als dünne Papierkulissen, hinter denen brutal und ohne Regeln um Geld, Macht und Ruhm gerungen wird.
Es gibt keinen dauerhaften, über Jahrzehnte und Jahrhunderte sich aufbauenden sozialen Fortschritt. Die Blüte von Hochkulturen ist immer nur von historisch kurzer Dauer. Mit Zwangsläufigkeit folgt ein zivilisatorischer Verfall. Das wahrscheinlichste Zukunftsszenario ist die weitgehende oder totale Selbstvernichtung der Menschheit. Und hier kann sich Gray auf sehr gewichtige Autoritäten stützen, wie etwa den britischen Biowissenschaftler James Lovelock, der seine immense intellektuelle Kraft mit ganz zentralen Theorien und Erfindungen unter Beweis gestellt hat. Von unbegründeter Schwarzmalerei kann also hier keinesfalls die Rede sein.
Wir werden das giergetriebene Wachstum nicht begrenzen können, die Ressourcen werden ausgehen, die immer mächtiger werdenden Technologien werden irgendwann im Kampf darum auch als Waffen benutzt werden, der Klimawandel wird ein Übriges tun. Alles irdische Bemühen kann sich am Ende doch nur als eitel und vergeblich erweisen. Die Welt in ihrer derzeitigen Verfassung ist nur ein einziges postabsurdes und absolut sinnloses Theater, und zu weiten Teilen ein grausames noch dazu.
Aufklärung, Fortschrittsglaube und Humanismus sind nichts als quasireligiöse Wahnsysteme, die ihren Ursprung in aufweisbaren Irrtümern des Christentums haben. Und all das versucht Gray dann mit Gelassenheit zu nehmen – wie, sehen wir gleich.
Wie schon gesagt, die Lektüre dieses Textes hat mich sehr betroffen gemacht. Es ging so weit, dass mir folgender Gedanke kam: Ist das nicht eine Art Erleuchtung? Die einzige vielleicht, die es für uns Menschen gibt? Wenn Erleuchtung totale Desillusionierung bedeutet, wenn Erleuchtung heißt, der wichtigsten Wahrheit, die es für uns gibt, direkt ins Auge zu blicken, dann könnte man das tatsächlich so sehen. Eine schwarze, finstere, furchtbare Erleuchtung. Die Erblindung zur totalen Seinsfinsternis. Die modernisierte Reformulierung von Gedanken, wie sie schon von Schopenhauer oder Cioran vorgebracht wurden.
Grays Buch ist ja in einigen Besprechungen eher schlecht weggekommen. Tatsächlich: nicht wenige seiner Aussagen sind im Detail zweifelhaft und insgesamt ist doch ein recht grobes Schwarz-Weiß-Bild entstanden. Der Mensch ist nicht entweder vollständig ein Tier oder ganz davon losgelöst, er handelt nicht entweder vollständig bewusst oder wird total vom Unbewussten beherrscht, es gibt nicht entweder glorreichen, immerwährenden Fortschritt oder gar keinen. Die Wahrheit liegt immer irgendwo dazwischen, und diese Zwischentöne finden in Grays Buch keinen angemessenen Raum. Das alles kann man zu Recht bemängeln. Und dennoch gibt es überwältigende Argumente dafür, dass Gray am Ende mit seinen wesentlichen Aussagen Recht behalten könnte. Auch ein grobes Schwarz-Weiß-Bild kann im Kern die richtigen Figuren zeigen.
Gibt es über den Suizid hinaus noch eine andere Möglichkeit, mit dieser finsteren Erleuchtung umzugehen?
Gray versucht, uns wie folgt zu trösten: Die Fortschrittsillusion gebe es ohnehin nur im christlich geprägten Abendland. Den meisten anderen Zeitläuften und Kulturen von den Griechen über die Römer bis zu den Indern sei diese Denkfigur fremd gewesen. Dort hätten die Menschen doch auch ohne diese Illusionen gelebt und seien damit vielleicht nicht weniger glücklich gewesen – oder glücklicher.
„Die Suche nach einem Lebenssinn mag durchaus von therapeutischem Nutzen sein, hat aber mit dem Leben der Seele nichts zu tun. Echte Spiritualität bedeutet nicht, nach Sinn zu suchen, sondern sich von ihm zu lösen. Der Zweck des Lebens war für Platon die Kontemplation. Tätigsein hatte in seinen Augen nur insofern einen Wert, als es die Kontemplation ermöglichte“ (Gray 2010, S. 207). „Im Tätigsein bewahren wir uns ein Identitätsempfinden, das in der Reflexion zerfällt. Wenn wir an etwas arbeiten, erleben wir uns als scheinbar in sich geschlossene Wesenheit. Geschäftigkeit tröstet uns darüber hinweg, dass diese Geschlossenheit gar nicht existiert. Nicht der müßige Träumer entflieht der Realität, sondern der Emsige, der in einem betriebsamen Leben Zuflucht vor der Bedeutungslosigkeit sucht“ (Gray 2010, S. 204).
Kontemplation also. müßiges Tagträumen. Achtsamkeit im Hier und Jetzt. Nun ja. Ich übe das schon seit Jahren und predige es unverdrossen meinen Patienten und Schülern der Lebenskunst. Ein wenig hilft das tatsächlich und mit Veranlagung und viel Übung kann man da sicher auch noch mehr erreichen. Auch ich hab mir eine Mediationsmatte als letzte Zuflucht immerhin schon mal in mein Arbeitszimmer gelegt. Aber einfach ist es nicht. Die starken Eigendynamiken unseres Denkens reißen uns immer wieder aus der Gegenwart heraus und verstricken uns in leidvolles Nachdenken über Vergangenheit und Zukunft. Und das, worauf das Auge der Kontemplation fallen könnte, ist ja weiß Gott nicht immer erfreulich. Die ach so erhabene Natur ist mit ihrem großen Fressen und Gefressenwerden doch im Kern ziemlich grausam. Dem Zerfallen sozialer Ordnungen zuzusehen, dem brutalen Chaos in failing states, dem elenden Ersaufen bei Naturkatastrophen, das ist weiß Gott alles andere als erbaulich. Und wenn zu viele von uns nur noch tagträumen oder meditieren, dann zerfällt die Ordnung unserer eigenen Kultur womöglich noch schneller und wir müssen bald wieder mit eigener Muskelkraft Holzpflüge über den Acker zerren, um überleben zu können. Platon mag ausgiebig kontemplativen Muße-Bädern gefrönt haben. Aber ermöglicht wurde ihm das durch die Arbeit von Sklaven. Und geschrieben hat er schließlich auch. Ganz sicher nicht ohne die Intuition, dass das zu etwas nütze sein möge. Nicht umsonst trägt eines seiner Bücher den Titel „Der Staat“ und es geht darin um den Entwurf eines idealen Staates. Die Sehnsucht nach einer guten Ordnung ist uns eingeboren und es dürfte kaum ein Mittel geben, sie gänzlich los zu werden.
Auf allen Ebenen ist Leben in seinem Wesenskern auf Ordnungsbildung angelegt, ja fast handelt es sich um Synonyma. Leben ist Ordnung aus dem Chaos, Wachstum ist Ordnungsbildung, Lernen ist Ordnungsbildung. Sinn ist die Schließung einer Ordnung zur guten Gestalt.
Wir sind zum Kampf um gute Ordnung und Sinn bestimmt – oder sollten wir sagen verurteilt, verdammt? Vielleicht ist Sisyphos das treffendste Bild, das je für das Menschenlos gefunden wurde. Wir spüren, dass der Stein auf den Berg gehört, und ihn im Tal liegen zu sehen, wird uns immer ein blutiger Dorn im Fleische sein. Für viele Menschen wird sich letztendlich dieser Dorn als schmerzlicher erweisen als die Anstrengung, den Stein wieder und wieder hinaufzurollen.
Und gibt es denn gar keine Chance, dass der Stein einmal oben bleibt? Nun, denkbar wäre das schon. Gray selbst deutet die Voraussetzungen dafür an: „Ein grünes Higtech-Utopia, in dem wenige Menschen im Gleichgewicht mit den anderen Kreaturen des Planeten ein angenehmes Leben führen, ist wissenschaftlich gesehen machbar, vom Wesen des Menschen her gesehen aber unvorstellbar. Falls etwas in dieser Art zustande kommen sollte, dann nicht durch willentliches Handeln des Homo rapiens“ (Gray 2010, S. 196).
Das „Wesen des Menschen“, seine Gier-Natur ist also der springende Punkt: der Mensch ist kein Homo sapiens, kein vernunftdominierter Mensch, vielmehr ist er im Kern ein Homo rapiens, ein „raffender Primat“.
Doch kann man an diesem Wesen des Menschen irgendetwas ändern? Geht das nicht gefährlich in die Nähe jener Visionen vom Neuen Menschen, die heute als grauenvoll