Ein Leben in zwei Welten. Gottlinde Tiedtke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gottlinde Tiedtke
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Эзотерика
Год издания: 0
isbn: 9783946959793
Скачать книгу
Mutter ging nun nachts in den Garten, um ihn zu spritzen. Tagsüber gab es kein Wasser, und wir waren auf den Garten angewiesen.

      Dresden hatte bei der ersten kommunistischen Wahl der DDR am schlechtesten abgeschnitten. Dafür wollte man die Menschen vor Ort büßen lassen. Das russische Kommando strich die Lebensmittel einfach auf ein erbärmliches Minimum.

      Einmal gab es Kartoffelmehl, alle stürzten sich drauf. Was viele nicht wussten, für das Mehl hatte man nur die Schalen und die giftigen Kartoffelkeime zermahlen. Die älteren Leute starben wie die Fliegen.

      Mein Vater hatte auch eine Wassersuppe mit diesem Mehl gegessen. Er wurde schwer krank.

      Die Nachbarin erbarmte sich. Sie hatte ein kleines Kind und bekam etwas Milch. Sie gab meinem Vater jeden Tag etwas davon ab, bis es ihm langsam besserging.

      Wir Kinder bekamen dicke Bäuche. So wie die afrikanischen Kinder in den Hungergebieten. Monatelang gab es nur Suppe. Wasser mit einem kleinen bisschen Gemüse aus dem Garten.

      Wir alle überlebten durch den Garten.

      Meine Mutter hatte heimlich zwischen den Tomaten Tabak angebaut. Das war streng verboten. Doch sie machte es trotzdem und verkaufte den Tabak anschließend auf dem Schwarzmarkt.

      Der Garten – Ein unheimliches Gefühl

      Meine Erinnerung an all die Geschehnisse im Krieg reichen zurück bis zu meinem dritten Lebensjahr. Ich konnte mich auch daran entsinnen, sehr unglücklich gewesen zu sein, nicht bis zur Türklinke hinaufreichen zu können, um diese zu öffnen. Mit knapp sechs Jahren hatte ich dann mein erstes intuitives Erlebnis.

      Ich verbrachte viel Zeit in unserem Garten. Eigentlich war es eine Grünfläche, die in vier einzelne Parzellen aufgeteilt war.

      Mein ganzer Stolz war der Sandkasten darin. Die anderen drei Hälften teilten sich unsere Mitbewohner. Erreichbar war der Garten über ein großes Eisentor mit hohen Spitzen. Wir verschlossen es immer sorgfältig, wenn wir ihn verließen.

      Es war gegen Mittag. Keine Menschenseele irgendwo. Nachdem ich aufgesperrt hatte, ging ich schnurstracks zu meinem Sandkasten, doch auf einmal überkam mich ein ganz mulmiges Gefühl. Ich nahm den Schlüssel und versperrte das Tor von innen. Das hatte ich noch nie gemacht. Dann konzentrierte ich mich wieder auf den Sandkasten, bis mein Blick erneut auf das Tor fiel.

      Dort sah ich einen Russen mit einem Offiziersmantel, der sich an dem Schloss zu schaffen machte, um in den Garten zu kommen. Er versuchte sogar, über den Eisenzaun zu klettern, blieb aber mit seinem Mantel an den hohen Spitzen des Zaunes hängen. Ich spürte instinktiv, dass er nichts Gutes im Sinn hatte, und mir war klar, ganz egal wie laut ich geschrien hätte, keiner hätte mich gehört. Nach einer gefühlten Unendlichkeit gab der Mann endlich auf und verschwand.

      Unser anderer Nachbar war ein Deutscher, der eine Lederbekleidungsfabrik besaß. Viele russische Offiziere fuhren in ihren Militärwagen bei ihm vor, um sich neue Ledermäntel von ihm machen zu lassen. Uns Kindern schenkten die Soldaten ab und zu Speck.

      Ein Junge aus dem Haus war recht frech und warf in unserem Beisein einen Stein in die Scheibe eines Wagens. Der Fahrer schlief derweil am Steuer, während der Offizier drinnen Maß nehmen ließ. Die Scheibe zersplitterte und wir rasten um unser Leben.

      Es gab einen Schuppen hinter dem Haus. Der gehörte einem Klempner. Dahinter, ein wenig abseits, lag ein weiterer. Dort stand ein alter An­hän­ger, in dem eine alte Plane lag, unter der wir uns verkrochen. Die Soldaten waren uns den ganzen Weg gefolgt und standen nun fluchend vor unserem Versteck. Uns blieb fast der Atem stehen. Wer weiß, was sie mit uns gemacht hätten, wir wollten es uns gar nicht vorstellen.

      Wir atmeten auf, als sie nach einer Weile verschwanden.

      Am darauffolgenden Tag trafen die Offiziere in aller Herrgottsfrüh ein, alle Türen des Büros des Lederfabrikanten standen offen, keiner war zu sehen.

      Die Familie hatte unbemerkt alles stehen und liegen lassen und war heimlich in der Nacht mitsamt der achtzigjährigen Großmutter in den Westen geflüchtet.

      Gabriele mit Nachbarskindern und dem Dienstmädchen Gudrun

      Das lebensrettende Traumbüro

      Ein ganz besonderes Steckenpferd meiner Mutter war die Traumdeutung und Tiefenpsychologie nach C. G. Jung.

      Sie hatte alles über analytische Psychologie gelesen. Eine gute Bekannte hatte selbst bei C. G. Jung in Zürich studiert und dort auch promoviert. Meine Mutter legte Karten, aber es waren nicht die Karten, die zu ihr sprachen, sondern ihre Intuition.

      Die beiden Frauen verstanden sich nicht nur ausgezeichnet, sie waren komplett auf der gleichen Wellenlänge, ergänzten sich in ihren Fähigkeiten und bildeten ein hervorragendes Team.

      Frau Dr. Haack war eigentlich ganz zufällig auf meine Mutter gestoßen. Sie konnte sich ihre eigenen Träume nicht richtig deuten. Meine Mutter schon. Sie sah, dass die Ehe der anderen in Gefahr war, und half ihr, diese zu retten.

      Bald machte diese Sensation die Runde.

      Im „grünen Zimmer“ unserer Wohnung, der Name ging auf den grünen Kachelofen darin zurück, begannen meine Mutter und Frau Dr. Haack, zusammen zu praktizieren.

      Die Menschen kamen, erzählten ihre Träume und sie deuteten diese. Ich weiß nicht, wie vielen Hunderten Menschen beide weiterhalfen. Jeden Mittag, wenn ich aus der Schule kam, waren die Diele und das ganze Treppenhaus voller Leute, sie alle wollten zu den zwei Traumspezialisten in unsere Altbauwohnung. Sie alle warteten geduldig bis zum späten Abend, und das sechs Tage in der Woche.

      Frau Dr. Haack und meine Mutter verlangten nie nach einer Bezahlung. Manchmal revanchierten sich die Leute und brachten ein Viertel Brot mit.

      Während dieser Zeit probte mein Vater zur Freude unserer Mitbewohner in unserer guten Stube mit seinem Orchester. Dazu gab es jede Menge Gesang, denn er bildete auch eine Koloratursängerin aus.

      Da das florierende Traumbüro meiner Mutter keine Zeit mehr für den Haushalt ließ, hatten wir ein Mädchen aus Schlesien aufgenommen, das alsbald zur Familie gehörte. Auch meine Großmutter Auguste aus Dresden wohnte jetzt bei uns.

      Wir lebten nun in einem Mietshaus, auf jeder Etage befanden sich zwei Wohnungen. Auf unserem Stockwerk wohnte ein Tontechniker, der bei SABA gearbeitet hatte.

      Der Name stand für die Schwarzwälder Apparate-Bau-Anstalt August Schwer Söhne GmbH, die Radiofunkgeräte und Tonbänder herstellte.

      Dieser Mann bekleidete bei der Wehrmacht eine hohe Position im Nachrichtendienst, was natürlich keiner wusste. Seine Frau stand mit Mutter auf der Treppe, als er gegen Abend nach Hause kam: Er grüßte und sagte: „Ich hatte heute Nacht so einen blöden Traum.“

      „So“, sagte meine Mutter.

      „Dann kommen Sie gleich mal rein, ich leg Ihnen die Karten.“

      Plötzlich wurde sie leichenblass und sprang auf: „Packen Sie sofort eine Tasche mit dem Allernötigsten und verschwinden Sie von hier. Zögern Sie nicht, wenn Sie sich nicht sofort auf den Weg machen, holt sie der Geheimdienst. Sie müssen sofort verschwinden, verlieren Sie keine Minute. Gehen Sie nach Westberlin.“

      Mit diesen Worten schob sie ihn aus der Wohnung.

      Es ist kaum vorstellbar, wenn man es nicht erlebt hat, aber meine Mutter war eine unglaublich starke und überzeugende Persönlichkeit. Der Mann folgte ihren Anweisungen auf der Stelle und ließ alles zurück: Einen gut bezahlten Job, seine Freunde, seine Familie, sein Zuhause.

      Seine Frau half ihm, die Tasche zu packen. Zehn Minuten später war er fort.

      Es