Tatort Märchenwald. Kristina Lohfeldt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kristina Lohfeldt
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Сказки
Год издания: 0
isbn: 9783944180984
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fühlt sich hässlich und im falschen Körper geboren und überschreitet jegliche ethische Grenze, um ihrer Identitätskrise zu entkommen. Die Liebe zum Prinzen ist hier ein Mittel zum Zweck für eine sehr junge Frau im überlieferten Alter von gerade einmal 16 Jahren, die ihre eigene Schönheit nicht zu erkennen vermag, obwohl diese doch öffentlich von allen gepriesen wird. Ihre Ursprünge liegen hier jedoch bei der Geschichte um die Wassernymphe Undine oder Melusine. Sie verliebt sich in der antiken Version in einen sterblichen Fischersmann, tötet ihn versehentlich im Meer und wirft sich daraufhin selbst in die Fluten. Sie bittet als Buße darum, ein Fisch zu werden, doch da die See ihre Schönheit zumindest teilweise erhalten möchte, wird sie in eine Meerjungfrau verwandelt. Die kleine Seejungfrau, De lille Havfrue, The little Mermaid, ist zudem eines der sehr wenigen (Kunst)Märchen ohne Happy-End. Fast wie im wahren Leben also.

      Der ewige Blutbräutigam Blaubart / Barbe Bleu hingegen gilt als radikaler Rächer für sich selbst, wenn es um das in den alten Märchen von Natur aus als neugierig geltende Frauenzimmer geht. Jede seiner Bräute darf 99 Zimmer in seinem Schloss mit den einhundert Räumen betreten. Öffnet sie jedoch die Tür, zu der ein kleiner, goldener Schlüssel gehört, ist sie sogleich des Todes. Wer, egal ob Mann oder Frau, würde dieser Versuchung widerstehen? Rechtfertigt Ungehorsam den Tod? Ist Blaubarts Mörderspiel mit den Damen fair? Ist das Blut, dass sich auf keinen Fall wieder abwaschen lässt, ein Synonym für eine miese Petze?

      Wird das sture Mädchen in den Roten Schuhen nicht zu streng dafür bestraft, dass es unbedingt ein paar wunderschöne Schuhe haben möchte, wo es doch sonst nichts zu besitzen scheint? Auch wenn es deshalb egoistisch das finanzielle Wohl der Familie strapaziert? Und welche Schuld lädt der Richter im Originalmärchen auf sich, der sie – trotz ihrer eigenen Bitte – verstümmelt?

      Ist der Magische Spiegel ein Blender oder hetzt er gar die Schönsten gegeneinander auf? Und überhaupt: wer steckt im Magischen Spiegel der Königin? Und wie kam er da hinein? Haben wir es hier mit Entführung zu tun? Oder ist der Magic Mirror einfach nur Magic? Nun, sicherlich war er der Drahtzieher des Ganzen.

      Wie weit ist das Schicksal der schizophrenen Schwanenprinzessin in Darren Aronowskys moderner Schwanenseeversion Black Swan wirklich hergeholt? Finden wir etwa auch Parallelen dazu im Märchen Die sieben Schwäne? Hatte die Schwester wirklich sieben Brüder – oder keinen? Und war die Ursache für diese Identitätskrise ein familiäres Verbrechen? Denn Familiäres scheint in den Märchen wenig Positives zu bieten.

      Und die Prinzessin auf der Erbse, ist sie tatsächlich eine Dramaqueen? Oder ist ihre Seele einfach nur viel zu zart und kultiviert für unsere egoistische, stets eilige Welt, die mobbt, ausgrenzt, verlacht und Depression für eine Ausrede für Dünnhäutige hält?

      Und was sind die Motive für Malefiz, oder im Englischen Maleficent, die Dreizehnte Fee, ein unschuldiges Baby anstelle des unehrlichen Vaters zu verfluchen? Wie unfair ist ihr Racheakt tatsächlich?

      Es lohnt sich immer, ein wenig über die alten und neuen Versionen der Märchen nachzudenken. Ob nun in christlichem oder in einem psychologischen Aspekt oder einfach als Leitfaden, bleibt jedem selbst überlassen. Wir alle hoffen und warten im Märchen doch nur auf das ersehnte Happily Ever After, wahre Liebe am besten mit Kuss, skrupellose Bösewichte, ein bisschen Terror und Horror, und dass die Träume der Helden wahr werden. Und natürlich ein ordentliches Verbrechen. Nein? Nun, vielleicht ja nach dieser Lektüre.

      Diagnose: Kindesentführung

       Täter: Rattenfänger und Schneekönigin

      Schnee fällt und bleibt nicht liegen. Er lässt das kleine schwedische Dorf, in dem es lediglich eine einzige Straße gibt, jedoch keineswegs verschlafen oder gar winterlich beschaulich erscheinen. Ein einsamer Hauch von Melancholie liegt über den Dächern der wenigen Häuser, an denen ich vorbei schreite. Dies ist ein kleiner Teil von dem, was mir gehört. Mein Reich des Eises und der Einsamkeit. Doch seine kühle Schönheit berührt mich nicht mehr. Ich verspüre keine Freude, keine Wehmut, keine Trauer wie ich es einst tat, vor gar nicht langer Zeit. Nichts ist mehr schön für mich, nichts mehr von Bedeutung. Nicht einmal die einstige Vergötterung der Menschen, die mich früher furchtsam und mit einer gewissen Faszination verehrten, erheitert mich noch. Die Zeiten haben sich geändert, der Mensch hat sich verselbständigt, und seine einzige Furcht ist nun ein zu kurzer Sommer, eine zu kurze Erntezeit.

      Hie und da brennt eine Kerze in einem der Fenster, die die Kinder des Dorfes in Sicherheit wiegen soll. Ein alter Aberglaube, und keineswegs so wirksam wie erhofft.

      Ich drehe mein Gesicht gen Himmel, so dass sich die feinen Schneeflocken darauf niederlassen. Sie bleiben auf meiner eiskalten Haut liegen. Ich betrachte noch einen Moment die hauchfeinen Gebilde der Eiskristalle, die sich in meinen Wimpern verfangen und sich auf meine stets offenen Augen legen. Dann lasse ich den Kopf nach vorne fallen, so dass sie sich lösen und hinab zu meinen Füßen schweben. Benommen sehe ich ihnen nach. Mein langes, feines Haar weht in dem eisigen Wind umher. Dann richte ich mein silberfarbenes Sakko mit den blauen Knöpfen, knöpfe den Stehkragen bis unters Kinn zu und streiche einige Falten aus dem dicken Stoff meiner Hose. Ich fische ein Paar dünne Lederhandschuhe hervor, die ich sorgfältig überziehe, Finger für Finger das Leder um meine dürren Eishände straffe, und gehe zielstrebig auf die einzige kleine Bar im Dorf zu. Die dunklen Spiegelungen in den Fenstern zeigen mir eine verzerrte Version meines ohnehin verwischten Selbst, bis ich unter den bronzenen Buchstaben über der massiven Holztür stehe. Hrimhune steht dort in kantigen Lettern. Kein Geräusch, kein Licht zeigt mir, dass irgendwo Leben ist. Der Eisriese, was der Name übersetzt bedeutet, scheint, wie der Rest des Dörfchens ebenfalls, noch zu schlafen.

      Ich balle die Hand zur Faust und donnere damit ein paarmal gegen das eisenbeschlagene Holz. Es poltert lauter als ich erwartet habe und ich sehe mich hastig betreten um. Bereits einen Wimpernschlag später wird die Tür nach innen gezogen, und ein zerzauster älterer Mann im schwarzen Hemd und etwas zu weiter lederner Hose steht vor mir. Er wird beinahe verschluckt von der Dunkelheit im Inneren und schafft es sogar, mich für mein lautes Hämmern nicht missbilligend anzusehen. Statt dessen deutet er stumm mit seinem kurzen Zeigefinger, um den sich ein Ring in Form eines Wyverex, eines skandinavischen Schlangendrachens, schlingt, auf einen kleinen Klingelknopf zu meiner Linken.

      „Wir sind hier keine Höhlenmenschen, miin Herre“, klärt er mich auf und seine mandelförmigen, dunkelblauen Augen blitzen kurz auf, als würde er mich erkennen. Ich nicke entschuldigend und strecke ihm meine behandschuhte Rechte zur Begrüßung entgegen. Ich komme mir ein wenig benachteiligt vor, da ich direkt im kalten Morgenlicht stehe und ich von ihm lediglich den einst rötlich blonden Bart, die Haut seiner Arme und seines Gesichtes sehen kann, die sich wie helle Fragmente eines Setzspieles von dem Dunkel im Inneren abheben. Er ergreift meine Hand und schüttelt sie zurückhaltend, während er mich nun misstrauisch mustert. Ich kenne diesen Blick zu gut und kann ihn meist sogar nachvollziehen. Schließlich gelte ich in den neueren Zeiten doch als recht seltsame Erscheinung. Doch einst, vor langer Zeit, wurde ich von weitem erkannt, man wusste meine Taten zu würdigen, meinen Zorn zu fürchten. Allein meine Körpergröße ist beeindruckend und auch sonst sieht nichts an mir gewöhnlich aus. Mein schulterlanges Haar ist zu hell, beinahe Schneefarben, mein Körper ist schlank und drahtig, sehnig und kräftiger als auf den ersten Blick anzunehmen. Ganz zu schweigen von der Sache mit meinen hellgrauen, nahezu weißen, stets offenen Augen.

      Weil sich die Hand des Mannes in meiner wie ein nasser Fisch anfühlt, muss ich an mich halten, um sie nicht sofort wieder loszulassen.

      „Arien Gratt“, stellt er sich vor. Ich hingegen nicke nur knapp.

      Er mustert mich mit eigenartigem Blick, beinahe, als wüsste er, wer ich bin. Sein Atem fließt in kleinen Wölkchen aus seinem offenen Mund. Das Seltsamste an mir ist wohl meine Haut, die er höflicherweise nicht unverhohlen anstarrt. Sie ist von kalkiger Fahlheit und so dünn, dass man die Adern wie Flüsse darunter sehen kann. Gleich hellgrauen Furten schlängeln sie sich an meinen Schläfen und am Kinn hinab zum Hals, wo sie unter dem dicken Kragen meines Mantels verschwinden. Sie zeichnen