Viel Feind, viel Ehr – dieses Motto wurde hier auch für das Wirtschaftsleben strapaziert. Auch wenn man berücksichtigt, dass Reusch sich auch im fünften Jahr als Generaldirektor der GHH noch gegenüber den dominierenden Gestalten der Schwerindustrie in Szene setzen musste, so schockiert doch die Kompromisslosigkeit und die Aggressivität des Stils in diesem Bekenntnis zu reaktionären Positionen.
Reusch und Woltmann: Zum Führungsstil des Konzernherrn
In seinem Kampf gegen die Sozialdemokratie verlangte Reusch von seinen Untergebenen uneingeschränkte Gefolgschaftstreue, dies nicht nur bei den Arbeitskämpfen im eigenen Betrieb, sondern darüber hinaus auch im politischen Raum. Seinen Stellvertreter Woltmann führte er bei der Kandidatenaufstellung der Nationalliberalen Partei am kurzen Zügel: Auch im Urlaub gab er vom tschechischen Karlsbad aus präzise Handlungsanweisungen. Selbst Woltmann musste bisweilen eine harte Zurechtweisung hinnehmen. Im September 1912 erteilte Reusch ihm eine Rüge, weil die von ihm entworfene Arbeitsordnung für den Walsumer Hafen rechtswidrig sei. Reusch schloss sein Schreiben mit dem bissigen Satz: „Im übrigen bitte ich zur Kenntnis zu nehmen, dass derartige wichtige Bestimmungen nicht herausgehen dürfen, ohne mir vorgelegt zu werden.“197 Woltmann hatte sich von Anfang an mit Anordnungen seines Chefs auch zu ganz unwichtigen Randproblemen herumzuschlagen. So musste bei der Aufforstung des Fernewalds darauf geachtet werden, dass Laub- und Nadelholz gemischt wurden, um dadurch Bränden vorzubeugen.198 Oder er sollte den Oberhausener Verkehrsverein veranlassen, bei der Reichsbahndirektion eine Eingabe zu machen, damit die D-Züge nach Berlin statt „Alten-Essen“ künftig die Station „Oberhausen“ auf ihren Wagon-Schildern führten.199 Diese etwas kleinliche Anordnung lässt sich natürlich auch als Zeichen der Verbundenheit mit der Stadt, in der Reusch seinen Wohnsitz hatte, deuten, und als derartiges Signal wollte er sie wohl auch wahrgenommen wissen.200
Woltmann seinerseits versuchte, die Kommunikation mit seinem Chef auf eine persönliche Ebene zu verlagern und ihn mit langen, handschriftlich verfassten Erlebnisberichten von einer Reserveübung in Lothringen zu beeindrucken: Er habe schon „manchen Kilometer auf der Landstraße gemacht und manche Furche übersprungen. Wir werden tüchtig geschliffen. Um 5 Uhr morgens Abmarsch und gegen 2 Uhr nachmittags Heimkehr. Der Rest des Tages ist dann eine angenehme, aber bleierne Müdigkeit, die jede geistige Tätigkeit lähmt.“ Als Offizier habe er mit seiner Truppe die Schlachtfelder des Krieges von 1870/71 besichtigt. „Das hat mir viel Spaß gemacht, ich spreche gerne zu Soldaten.“ Bald werde er die Gelegenheit zu einer „3-wöchigen Zigeunerfahrt durch Lothringen“ haben.201
Aus diesen Zeilen eines einflussreichen Industriellen spricht eine naive Pfadfinderbegeisterung, die einen heutigen Leser erschrecken muss, wenn man bedenkt, welches Grauen sich auf den Schlachtfeldern Lothringens ein Jahr später entfalten würde. Auch die Selbstverständlichkeit, mit der Lothringen als Teil des Deutschen Reiches erlebt wurde, ist bemerkenswert.
Für Reusch aber sprach aus diesen Zeilen der „Geist von 1914“, den er noch Jahrzehnte später teils wehmütig, teils verbittert immer wieder von Neuem beschwor.
Erste Zwischenbilanz
1 Reuschs Konzernstrategie in seinen ersten Jahren als Generaldirektor war vorrangig auf die Sicherung der Rohstoffbasis ausgerichtet. Er kümmerte sich persönlich um den Erwerb und die Aufschließung der Erzgruben in der Normandie, pflegte den persönlichen Kontakt zu den französischen Geschäftspartnern und reiste bis 1914 regelmäßig nach Paris. Daneben plante er eine Groß-Investition in die Verhüttung französischer Erze vor Ort in „Französisch“-Lothringen. Aus diesen wirtschaftlichen Interessen leitete er aber nicht die Notwendigkeit der politischen Verständigung mit dem großen Nachbarn im Westen ab, sondern er unterstützte die spannungsverschärfende Propaganda der nationalistischen Verbände und Parteien und die riskante Weltmachtpolitik der kaiserlichen Regierung. Im Hinblick auf Hitlers Autarkiepolitik ein Vierteljahrhundert später bleibt auch festzuhalten, dass Reusch Eisenerz ausschließlich im Ausland suchte und wirtschaftlich offenbar keinen Sinn darin sah, die spärlichen Erzlager in Deutschland aufzuschließen. Die naheliegende Schlussfolgerung, dass nämlich ein freier Welthandel für die GHH eine Existenzfrage war, zog er jedoch nicht. Im Gegenteil: „Freihändlerisch“ war für ihn gleichbedeutend mit „industrie-feindlich“.
2 Reusch engagierte sich nicht im „Alldeutschen Verband“ wie sein Kollege Hugenberg, sondern konzentrierte sich ganz darauf, der „Deutschen Vereinigung“ im Konzert der nationalistischen Verbände Geltung zu verschaffen. Nimmt man die Verlautbarungen dieser „Vereinigung“ unter die Lupe, so wird man allerdings nichts finden, was außen- oder sozialpolitisch als „gemäßigt“ bezeichnet werden könnte.
3 Beim Bergarbeiterstreik im März 1912 meinte Reusch wohl ernsthaft, die Gewerkschaften von ihren Forderungen abbringen zu können, indem er die nationalistische Saite anschlug: Man könne den englischen Konkurrenten, die ihrerseits durch einen erbittert ausgefochtenen Arbeitskampf geschwächt waren, doch jetzt Marktanteile abjagen. Gleichzeitig rief er sofort nach der Polizei, um die „Arbeitswilligen“ zu schützen. Und er sah überhaupt keinen Widerspruch zwischen diesem Ruf nach dem Eingreifen des Staates und dem von Gustav Krupp stellvertretend für die Arbeitgeber vorgetragenen Appell an die kaiserliche Regierung, sich bloß nicht wieder wie 1905 als Vermittler einzuschalten. Nachdem die Arbeitgeber mit ihrer Konfrontations-Strategie – massiver Einsatz von Polizei und Militär, Ablehnung jeder Vermittlung – gesiegt hatten, leitete Reusch nach Krupps Vorbild umgehend den Aufbau von gelben Werkvereinen in die Wege. Im Kreis der Ruhrindustriellen sollte er bald zum wichtigsten Patron dieser wirtschaftsfriedlichen Verbände werden. Wenige Monate vor dem Bergarbeiterstreik hatte sich Reusch in der Auseinandersetzung mit den Techniker-Verbänden als besonders rabiater Vertreter des Herr-im-Haus-Standpunktes hervorgetan. Ebenso kompromisslos bekämpfte er im politischen Raum die Sozialdemokratie. Die von Reusch halsstarrig verfolgte Konfrontationsstrategie gegen jedwede Form gewerkschaftlicher Interessenvertretung relativiert die von ihm weitergeführten betriebsinternen Fürsorgemaßnahmen für die wirtschaftsfriedlichen Teile der Belegschaft.
4 Bei der Reichstagswahl von 1912 setzte er alle Hebel in Bewegung, um der SPD den Wahlkreis Duisburg-Mülheim-Oberhausen wieder abzujagen. Im Vorfeld verfocht er den Anspruch, der Nationalliberalen Partei einen Kandidaten vorschreiben zu können. Ein mittelständischer, „links“-liberaler Neigungen verdächtiger Unternehmer kam für die Herren der Schwerindustrie nicht in Betracht. So richtig zufrieden war Reusch aber nur mit dem Ergebnis der Wahl zum preußischen Abgeordnetenhaus, wo das Drei-Klassen-Wahlrecht dafür sorgte, dass nur rechtsorientierte Männer die Mandate erhielten.
1Jürgen Kocka/Hannes Siegrist, Die hundert größten deutschen Industrieunternehmen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Expansion, Diversifikation und Integration im internationalen Vergleich, in: Recht und Entwicklung der Großunternehmen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Wirtschafts-, sozial- und rechtshistorische Untersuchungen zur Industrialisierung in Deutschland, Frankreich, England und den USA, hrsg. von Norbert Horn/Jürgen Kocka, Göttingen, 1979, S. 107–108.
2Vgl. dazu die voluminöse Stinnes-Biographie: Gerald D. Feldman, Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen 1870–1924, München, 1998, vor allem die Kapitel I,3 („Kohle und Macht“), V („Ein deutscher Unternehmer in einer globalen Wirtschaft“) und VI („Hugo Stinnes und der Krieg: Politik und Geschäfte“). (Im Folgenden: Feldman, Stinnes).
3Heinz Reif, Die verspätete Stadt. Industrialisierung, städtischer Raum und Politik in Oberhausen 1846– 1929, Köln 1993,