Der ihm nachfolgende Redner, Pfarrer Wessel aus dem benachbarten Mülheim an der Ruhr, heizte mit überschäumendem nationalistischem Schwulst die Emotionen noch stärker auf. Nach der Warnung der deutschen Katholiken vor der „roten Flut“ verweilte er lange beim Thema Elsass-Lothringen: „Das gemeinsame für unsere Ostmarkenpolitik und für unsere Verbeugungspolitik in Elsass-Lothringen ist, dass wir vergessen, dass wir da etwas überkommen [sic!] haben als ein Erbe von unseren Vätern, das sie uns hinterlassen haben, um dafür einzusetzen alles, was wir haben (Bravo): Gut und Blut, Weib und Kind, Heimat und Herd. Für dieses Elsass haben deutsche Männer geblutet und haben im Feld gestanden, der evangelische neben dem katholischen und haben einander die Hände gereicht, wenn das tödliche Blei den einen zur Seite riss, und haben sich ins Auge gesehen und nicht gefragt, bist du evangelisch oder katholisch, sondern sie haben einander begrüßt, und wars mit dem letzten Lächeln: ,Ich hatt’ einen Kameraden.’ Und darum ist es ein gemeinsames Gut, und das sollten wir den Französlingen ausliefern? Möchte der schwächlichen Regierung noch einmal im letzten Augenblick der furor teutonicus, der echte deutsche Zorn, den Weg zurückweisen.“89 Nachdem alle stehend „Deutschland, Deutschland über alles“ geschmettert hatten, „schloss Kommerzienrat Reusch die Versammlung mit dem Wunsche auf ein weiteres Blühen der Deutschen Vereinigung.“90 Drei Monate später wurde Reusch in den Vorstand der Deutschen Vereinigung für das Industriegebiet berufen.91
Er war am 2. November 1911 bei einer vertraulichen Besprechung der Ausschussmitglieder für das Rhein-Ruhr-Gebiet anwesend, als für die bevorstehende Reichstagswahl vereinbart wurde, die nationalen Parteien zu unterstützen und sich bei einer Stichwahl notfalls hinter den Zentrumskandidaten zu stellen, wenn nur so die Wahl eines Sozialdemokraten verhindert werden konnte.92 Ergebnis der Duisburger Besprechung war ein äußerst polemisch formulierter Wahlaufruf gegen die SPD: Die Sozialdemokratie sei eine „internationale vaterlandslose Partei“. Als in der Marokkokrise eine „gewaltige Erregung“ durch die deutsche Nation ging, „sannen die Häupter der Umsturzpartei auf Hochverrat und hetzten die Massen zum Generalstreik.“ Die Sozialdemokratie wolle die monarchische Staatsordnung zerstören, das Privateigentum aufheben und Religion und Familie vernichten. Aber besonders um die Armee und Marine sorgte sich die Deutsche Vereinigung: Eine starke SPD-Reichstagsfraktion würde „mit Hilfe national unzuverlässiger und schwankender Elemente dieses unser Rüstzeug … schwächen“.93 Reusch erklärte sich mit diesem Aufruf „voll und ganz einverstanden“.94
Danach erreichte der Reichstagswahlkampf seine heiße Phase. Reusch und seine Unternehmerkollegen hatten sich massiv in die Nominierung des Kandidaten der Nationalliberalen Partei eingemischt.95 Der Name der „Deutschen Vereinigung“ wurde bei der Stichwahl herangezogen, um zu erreichen, dass die Katholiken nicht für den Sozialdemokraten, sondern für den Nationalliberalen stimmten. Nach dem Erfolg im Wahlkreis Duisburg/Mülheim/Oberhausen wurde im Vorstand Bilanz gezogen. Reusch hielt fest, dass das Zentrum sich „in nationaler Hinsicht … gebessert“ habe, aber „auf sozialem Gebiete … auch fortan auf der Seite der Sozialdemokratie“ stehen würde. Deshalb sollte die Deutsche Vereinigung den „Kampf suaviter in modo weiter führen“. Auf Reichsebene sollte sie sich verstärkt für ein „Zusammengehen von Industrie und Landwirtschaft“ einsetzen.96
Abb. 3:„Deutsche Wacht“, Bonn, 26. 11. 1911, Sonderdruck, Aufruf gegen die Sozialdemokratie, in: RWWA 130-300127/8
Wie groß der Einfluss Reuschs in diesem Verband schon war, ist auch daran zu ermessen, dass die Generalversammlung am 21. April 1912 im Beekschen Saale in Oberhausen stattfand. Reusch lud alle Delegierten ins Hütten-Casino der GHH zum Essen ein.97 Bei seiner Begrüßung brachte er die Genugtuung darüber zum Ausdruck, dass bei der Reichstagswahl im hiesigen Wahlkreis „Nationalliberale und Zentrum Schulter an Schulter kämpften und den Wahlkreis der Sozialdemokratie entrissen“.98 Die scharfen rhetorischen Attacken gegen die SPD und die Gewerkschaften überließ er dem Grafen Hönsbröch. Trotzdem griff ihn die katholische „Oberhausener Volkszeitung“ direkt an. Reusch sei einem „fundamentalen Irrtum“ unterlegen, als er behauptete, Zentrum und Nationalliberale hätten Schulter an Schulter gekämpft, da es der Deutschen Vereinigung gelungen sei, die konfessionellen Gegensätze zu überbrücken. Das Zentrum sehe in der Deutschen Vereinigung nach wie vor „eine Organisation, gegründet von einigen abtrünnigen früheren Zentrumsleuten zur Bekämpfung des Zentrums“.99 Reuschs Stellvertreter Woltmann referierte bei der Generalversammlung über „Industrie und Landwirtschaft“ und warb dafür, „Landwirtschaft und Industrie in jeder Weise zu fördern“.100 Dies konnte – so fasste die katholische „Volkszeitung“ seinen Appell auf – nur durch Fortführung der Schutzzollpolitik sichergestellt werden.101 Woltmanns Gedanken über die Interessengemeinschaft von Industrie und Landwirtschaft bildeten den Auftakt für Reuschs hartnäckige Bemühungen zur Wiederbelebung des Bündnisses von Junkern und Schlotbaronen. Die Deutsche Vereinigung war für ihn dabei nur ein Forum unter mehreren.102
Zunächst war es wichtig, finanzkräftige Geldgeber für die Deutsche Vereinigung zu gewinnen. Deshalb begann Reusch noch vor der Generalversammlung in Oberhausen, bei seinen Unternehmerkollegen für diese Organisation zu werben, und erreichte, dass die Schwerindustrie des Ruhrreviers einen Jahresbeitrag von 8.500 Mark aufbrachte, wovon die GHH einen Anteil von 1.000 Mark übernahm.103 Die Resonanz war jedoch nicht überall positiv. Während z. B. Springorum für die Firma Hoesch sofort zusagte, erhielt Reusch von Hugenberg für die Firma Krupp und vom wichtigsten Arbeitgeberverband der Ruhrindustrie, der sogenannten „Arbeitnordwest“, eine Absage. Nach Reuschs verärgertem Protest, sagte „Arbeitnordwest“ wenigstens einen Beitrag von 1.000 Mark für die Ruhrgebietsgeschäftsstelle zu. Ab 1913 schickte Reusch jeweils im Dezember freundliche Erinnerungen an seine Kollegen, doch den Jahresbeitrag zu überweisen. Er fühlte sich jetzt stark genug, mit dem Austritt aus der Nord-Westlichen Gruppe des Vereins deutscher Eisen- und Stahlindustrieller und aus dem Arbeitgeberverband drohen zu können, sollten diese Organisationen der „Deutschen Vereinigung“ die Unterstützung verweigern.104 Beukenberg von der Phoenix AG, Vorsitzender dieser wichtigen Unternehmerverbände, verlangte als Gegenleistung von der GHH einen jährlichen Beitrag von 500 Mark für den stramm nationalistischen Deutschen Ostmarkenverein, den Reusch auch sofort zusagte.105 Eine Hand wäscht die andere – dies galt offensichtlich auch für das Netzwerk rechts-konservativer und nationalistischer Vereine im Kaiserreich.
Graf Hönsbröch konnte zu Ende des Jahres 1913 zufrieden Bilanz ziehen über den „Stand der Bewegung“ im Industrierevier. Die Bildungsarbeit im Rahmen der von Reusch energisch geförderten gelben Gewerkschaften war seit dem Bergarbeiterstreik im März 1912 ins Zentrum der Aktivitäten gerückt.106 Vorbild für diese Strategie war vermutlich Reuschs Vorgehensweise auf lokaler Ebene: Am 12. April 1913 hatte die Deutsche Vereinigung zu einem Vortrag des Generalmajors von Ditfurth über die Wehrvorlage in das Evangelische Gemeindehaus geladen.107 Reusch hatte seinen Untergebenen die Anweisung erteilt, die Werkvereinsmitglieder zur Teilnahme an dieser Veranstaltung aufzufordern.108 Der Herr Generaldirektor ließ es sich nicht nehmen, beim Vortrag des Herrn Generalmajors zu präsidieren. Stolz konnte er