Jetzt erst betrat Eki van Rehuis, der zurzeit prominenteste TV-Moderator, die Bühne. Philippes Beraterstab war begeistert von der Idee gewesen, den Showmaster zu engagieren, auch wenn es ein nicht gerade unbeträchtliches Loch in die Parteikasse riss – die Zukunftspartei lebte momentan eher von den eisernen Reserven der Vergangenheit. „Herzlich willkommen zur wohl bedeutendsten politischen Veranstaltung dieses Jahres!“ Mit diesen Worten eröffnete van Rehuis den Parteitag, der live im Politsender „vox populi“ übertragen wurde (die Übertragungsrechte spielten zumindest einen Teil der immensen Veranstaltungskosten wieder ein).
„Ich möchte Ihnen zwei Männer vorstellen, die sich heute um die Führung dieser Partei bewerben: Der eine, Erich Wilbert, hat sie gegründet, der andere, sein Sohn Philippe Wilbert, ist angetreten, diese Partei – und mit ihr vielleicht auch unser Land – grundlegend zu erneuern. Wie er das anstellen will, wird er uns nun verraten. Ich übergebe das Wort an Philippe Wilbert!“
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„Vor einigen Tagen fragte mich eine Journalistin, was ich davon halte, ein Populist genannt zu werden. Und wisst Ihr, liebe Freundinnen und Freunde, was ich darauf geantwortet habe? Wenn Populismus bedeutet, für die Rechte und Anliegen des Volkes seine Stimme zu erheben, dann bin ich gerne ein Populist!“
Damit hatte er bereits alle auf seiner Seite. Das war seine Stärke: Er machte sich gemein mit dem sprichwörtlichen Mann von der Straße, mit der Bäckersfrau von nebenan. Seine Rede wurde wirkungsvoll untermalt durch ein Video, das Luca Mehring hatte zusammenstellen lassen. Es zeigte ihn zusammen mit Studenten auf einer Demonstration, mit besorgten Eltern vor einem Kindergarten, im Gespräch mit protestierenden Milchbauern und so weiter.
Zafira wurde fast übel bei dieser Art von Selbstdarstellung. Als Frau fand sie Wilbert jr. zwar immer noch höchst attraktiv, aber was er hier auf der Bühne darstellte, konterkarierte dieses Bild. Sie hörte ihm nicht mehr zu, sondern beobachtete stattdessen aufmerksam ihre Kolleginnen und Kollegen neben sich. Links von ihr fotografierte der Sensationsreporter Pit Krumziegel pausenlos das Geschehen auf der Bühne. Sie kannte ihn von diversen anderen gesellschaftlichen Anlässen, wo er „auf Promijagd“ ging, wie er seine Tätigkeit ihr gegenüber einmal beschrieb. Sie wusste aber auch, dass er am nächsten dran war an Philippe Wilbert, dass er ihn weitaus besser kannte als alle anderen hier anwesenden Journalisten. Sie würde sich heute Abend an seine Fersen heften, um von ihm vielleicht mehr über diesen Mann zu erfahren, der bei ihr einen so widersprüchlichen Eindruck hinterließ.
Philippe Wilbert hatte seine Rede beendet, die Delegierten feierten ihn mit Standing Ovations. Danach trat sein Vater an das Rednerpult – schlagartig wurde es ganz still im Saal. „Ich danke dir für diese Rede, Philippe. Sie macht mir nur zu deutlich, dass es nicht gut wäre, diesen neuen Wein in alte Schläuche zu füllen. Wir leben nun mal in einer anderen Zeit, und die Bedingungen sind heute andere als in den Achtzigern, als ich diese Partei gründete. Ich will auch betonen, dass es nicht gut wäre, die Partei in zwei Lager zu spalten. Denn wie sagte schon mein großes Vorbild Abraham Lincoln: Ein Haus, das mit sich selbst uneins ist, mag nicht bestehen. Um dieser Einheit willen, und nur darum, trete ich heute vom Parteivorsitz zurück und kandidiere auch nicht mehr dafür. Ich danke allen für ihre Unterstützung, die ich bis heute erfahren durfte!“
Sprach’s, ging zurück auf seinen Platz und hinterließ ein ratloses und stummes Publikum.
Die anschließende Wahl des Vorsitzenden und Präsidiums brachte, wie nicht anders erwartet, ein grandioses Ergebnis für Philippe Wilbert als neuen Vorsitzenden: Er konnte 98,5 % der Stimmen für sich verbuchen. Dennoch blieb nach diesem Parteitag ein Makel an ihm haften, der ihm schwer zu schaffen machte. Er hatte nicht in offener Schlacht einen Sieg errungen, sondern war um diesen Triumph betrogen worden. Außerdem konnte er nicht sicher sein, ob ihm dieser im Handstreich übernommene Vorsitz später wieder streitig gemacht würde. Schließlich wussten einige seiner engsten Vertrauten mehr über ihn und seine Vergangenheit, als ihm lieb sein konnte. Und der ein oder andere verfügte über gute Kontakte zu den Medien. An diesem denkwürdigen Abend entschloss er sich deshalb zu einem Schritt, der ihm allerdings nicht leicht fallen würde.
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Zafira Lösch traute ihren Augen nicht, als sie am nächsten Morgen beim Bäcker Brötchen holte und ihr Blick auf die Frankfurter Morgenpost fiel: „Tragischer Selbstmord von Luca Mehring“, titelte die Boulevardzeitung. Zu Hause angekommen, las sie den kurzen, dafür aber mit umso größeren Fotos illustrierten Artikel über den Berater des neuen Parteichefs: „Luca Mehring, erst gestern zum neuen Generalsekretär der Zukunftspartei gewählt, wurde in der Nacht in seiner Wohnung tot aufgefunden. Er hat sich erhängt und einen Abschiedsbrief hinterlassen. Darin gesteht er eine langjährige sexuelle Beziehung zu einer Minderjährigen. Außerdem habe er an dem Sturz des Parteichefs Erich Wilbert aktiv mitgewirkt. Er bereue dies. Die Polizei ermittelt zurzeit die näheren Umstände und Hintergründe dieses tragischen Selbstmords. Wir bitten deshalb um Verständnis, dass wir an dieser Stelle noch nicht über weitere Details berichten können.“ Zafira stockte der Atem, als sie den Bildnachweis unter den Pressefotos las: Krumziegel. Ein Grund mehr, ihren dubiosen Kollegen zu kontaktieren.
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Sie trafen sich im Café Crumble. Beide hatten noch nicht gefrühstückt und holten dies nun nach. Nachdem sie bestellt hatten, kam Zafira gleich zur Sache: „Pit, was hast du außer dem Abschiedsbrief noch gefunden, und war es wirklich ein Selbstmord?“
„Erstens: nichts. Zweitens: ja“, lautete Krumziegels Auskunft.
„Aber du hast doch bestimmt vor, noch mehr aus der Story zu machen“, bohrte sie weiter.
„Ja sicher, aber dazu muss ich erst mit Philippe sprechen. Ich habe heute Abend einen Termin bei ihm bekommen. Willst du mit zum Interview? Er kennt dich ja, schließlich habt Ihr euch ja auch schon mal unterhalten, oder?“
Unterhalten ist wohl nicht der richtige Ausdruck, höchstens in der Hinsicht, dass er mich unterhalten hat, dachte Zafira und sagte: „Ja, sicher, gerne, ich bin dabei.“
„Gut, ich hole dich heute Abend um acht Uhr zu Hause ab.“ Pit schaute erwartungsvoll der Bedienung entgegen, die sein „großes Frühstück“ brachte – das wirklich für zwei gereicht hätte. Da machte sich Zafiras Bircher-Müsli geradezu wie eine Beilage aus. Na, Männer haben halt immer den größeren Appetit, dachte sie. Ihr Appetit auf Neuigkeiten war jedenfalls erst mal gestillt – bis heute Abend.
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Der rote Ford Krumziegels bog in die kleine Seitenstraße ein und hielt vor dem Appartmenthaus. Von dem kleinen Parkplatz fuhr gerade mit quietschenden Reifen eine schwarze Limousine mit getönten Seitenfenstern ab. Pit und Zafira stiegen aus und betraten die große Eingangshalle. Pit drückte seinen Zeigefinger auf das Klingelschild mit dem Namen P. Wilbert. Nichts tat sich, Pit drückte noch einmal und hielt nun den Finger länger auf den Button. Nichts. Da klingelte Pit beim Hausmeister, nannte seinen Namen und der Türöffner summte. Sie betraten das Treppenhaus, nahmen den Aufzug und stiegen auf der 5. Etage aus. Philippes Wohnungstür war nur angelehnt. Vorsichtig schob Pit sie auf und gab Zafira durch ein kurzes Nicken zu verstehen, sie solle hinter ihm die Wohnung betreten. Die Szenerie, die sich ihnen dann im Wohnzimmer darbot, war ebenso schockierend wie bizarr. Vom Geländer der Wendeltreppe, die ins Obergeschoss und Schlafzimmer führte, hing der leblose Körper Philipps herab. Aber er hing nicht etwa an einem Strick, sondern jemand hatte ihn