"Gute Frage, mein Kind", antwortete der Lehrer, "wenn du älter bist, wirst du es verstehen. Bis dahin pass auf dich auf." Hope versteht nicht, was umsie herumgeschieht. Denn keiner erklärt es ihr. Es gibt nur Gerüchte und Warnungen.
Trotzdem, was bleibt Hope übrig. Und ihrem Vater. Die Familie hat keine Alternative. Jeder muss mit anpacken. Die Familie braucht jeden Schilling zum Überleben. Immer wieder müssen Hope und ihre Geschwister auf den Feldern arbeiten.
Nur wenige Tage im Jahr, wenn die Ferien beginnen, darf Hope etwas für sich haben, für sich ganz allein: Zeit, ein bisschen Geld für das Kleid zu verdienen, das sie so gerne haben möchte.
Das weiße Kleid, ihr sehnlichster Wunsch, geht Hope nicht aus dem Kopf. Auch nicht, als sie sich auf den Heimweg vom Markt macht. Die vorbeifahrenden Busse, die sie immerzu in eine Staubwolke hüllen, nimmt Hope nicht wahr. Die erneuten Zurufe der Jungen auf ihren boda-boda-Taxis schon gar nicht.
In wenigen Tagen wird Weihnachten sein, denkt Hope, mein gespartes Geld reicht längst nicht aus, um selbst den billigsten Stoff für ein weißes Kleid zu kaufen.
Diese Niederlage tut ihr weh. Trotzdemlässt sich Hope davon nicht entmutigen.
Dann muss ich wohl noch ein Jahr warten, denkt Hope, als sie zurück zu den Hütten ihrer Familie kommt.
Die Dämmerung hat bereits eingesetzt, als Hope die blaue Plastikschale wieder neben die Hütte stellt und mit einem Tuch einwickelt, damit die Ameisen die Tomaten nicht fressen. Sie streift die Plastikschuhe von den Füßen und stellt sie in ihre Hütte.
Barfuß ist immer noch am schönsten, denkt Hope und genießt das Gefühl des warmen Sandes unter ihren Fußsohlen.
Hope beginnt, auf dem Platz zwischen den Hütten der Familie ein Feuer zu machen, um das Abendessen vom vergangenen Tag aufzuwärmen. Wie immer gibt es Maniokbrei. Zucker verleiht dem Ganzen ein wenig Geschmack. An guten Tagen, wenn die Familie beim Abendessen, dem wangoo, zusammensitzt, werden zu dem Brei noch ein paar gekochte Hühnerfüße gereicht und vielleicht auch Kartoffeln. Von diesen guten Tagen kennt die Familie aber nur wenige. Auch dieser Abend ist nicht so einer.
"Wie war der Markt?", fragt der Vater. "Nicht so gut", antwortet Hope.
"Und es wird nicht besser", sagt der Großvater, der sich ein kleines Radio ans Ohr hält, aus demein Stimmengewirr krächzt.
"Was meinst du schon wieder?", fragt Hopes Vater leicht irritiert.
"Willst du meine Meinung hören?", fragt der Großvater. Hope beginnt, allen Schüsseln mit Brei zu reichen. "Natürlich. Sprich", sagt Hopes Vater, der die Rede des Großvaters schon auswendig kennt, aber aus Höflichkeit vor dem Alter dem Großvater nicht das Wort verbieten will.
Der Großvater macht das Radio aus und legt es neben sich auf den Boden.
"Kampala hat kein Interesse an uns. Das ist doch klar. Wir sind Acholi. Wir sind die Feinde des Südens. Sagen die. Und jetzt bringen wir uns gegenseitig um. Das sagt Präsident Museveni der Weltöffentlichkeit. Dieser Krieg ist unser Problem, sagt er den Vereinten Nationen, das höre ich immer wieder im Radio", sagt der Großvater.
"Ja", sagt der Vater.
"Ja", antwortet der Großvater, "meinst du, der Sicherheitsrat tut etwas? Oder die internationalen Medien? Unsinn. Die denken doch alle, wir sind Wilde. Ach, und unsere Nachbarn, was machen die? Kongo. Sudan. Nichts."
"Ich glaube, du übertreibst", sagt Hopes Vater.
"Wer hört hier den ganzen Tag Radio? Du oder ich? Wer hört der BBC zu? Du oder ich?", antwortet der Großvater.
"Du hast ja Recht", antwortet der Vater, während die anderen still ihren Brei essen.
"Ich weiß noch, wie es vor der Unabhängigkeit von den Briten war. Vor 1962. Da herrschten hier zumindest noch Recht und Ordnung", sagt der Großvater.
"Wir sind frei, ist das nichts?", antwortet Hopes Vater. "Frei", ruft der Großvater, "frei? Hat uns dieser irre Amin Freiheit gebracht? War Obote ein Mann der Freiheit? Unsinn. Bürgerkriege. Militärputsche. Nord gegen Süd. Stammesfehden. Freiheit? Unsinn. Freiheit haben wir erst, wenn wir uns als ein Land sehen und nicht als Angehörige von Stämmen. Nur das erkennt hier ja keiner. Freiheit? Dass ich nicht lache."
"Du hast ja Recht", wiederholt Hopes Vater und versucht das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. "Dein Tag war also nicht so gut, Hope, dann wird der nächste bestimmt besser."
"Bestimmt", sagt Hope und lächelt.
"Unsinn", schimpft der Großvater, steht auf und geht in seine Hütte. Dann schaltet er das Radio wieder an. Die anderen hören das leise Krächzen der Stimmen.
"Er ist ein alter Mann", sagt Hopes Vater, "wir müssen Geduld mit ihm haben."
"Wer soll nur für uns kochen, wenn du eines Tages nicht mehr bei uns bist?", fragt plötzlich Hopes älterer Bruder James wie aus heiterem Himmel.
Hope blickt ihn böse an.
"Warumsollte ich nicht mehr bei euch sein?", fragt sie gereizt.
"Heute warst du ja auch nicht da", sagt James.
"Lass deine Schwester in Ruhe. Es war kein guter Tag für Hope. Gehen wir schlafen", fährt die Mutter dazwischen. Die anderen Geschwister kichern.
"Gehen wir schlafen", sagt Hopes Vater und beendet das wangoo am Feuer.
Der 12. Dezember 1996, obwohl er so gut angefangen hat, ist wirklich kein guter Tag für Hope gewesen und die Nacht sollte noch schlimmer werden. Das ahnt Hope allerdings noch nicht, als sie nach dem gemeinsamen Essen mit der Familie die Teller wäscht und sich dann Füße, Hände und Gesicht abseift, umsauber für die Nacht zu sein.
Anschließend geht Hope in ihre Hütte, schließt die kika und breitet die Strohmatte auf dem Boden aus. Ihre Schwestern schlafen bereits. Hope kann ihre Silhouetten, die sich ruhig auf- und ab bewegen, in der Dunkelheit erkennen.
Warum hat James das nur gesagt? Wenn ich nicht mehr bei ihnen bin? Was meint er damit? Und warum war Großvater schon wieder so gereizt? Ich verstehe das nicht, denkt Hope vor demabendlichen Gebet. Sie flüstert: "Liebe Mutter Maria, beschütze mich und meine Geschwister, meine liebe Mutter, meinen lieben Vater und die Großeltern. Gib uns Kraft und Segen und mir bitte noch ein weißes Kleid. Du weißt, liebe Mutter Maria, ich werde gut darauf aufpassen, damit es nicht schmutzig wird. Ich verspreche dir, ich gehe auch jeden Sonntag in die Kirche, singe für dich und meinen Herrn Jesus Christus. Amen."
Durch die Ritzen des Strohdaches der Hütte scheint der Mond direkt auf die Rose. In der Hütte ist es still. Bis auf das stete Atmen der schlafenden Schwestern ist nichts zu hören. Von draußen nimmt Hope nur das Knistern des Feuers wahr. In den anderen Hütten ist es ebenfalls ruhig geworden. Kein Streiten zwischen den Brüdern. Keine Gespräche zwischen den Eltern. Der Großvater hat das Radio ausgemacht.
Eines Tages werde ich ein weißes Kleid haben, denkt Hope. Wie eine Prinzessin werde ich darin aussehen. Und bestimmt noch viel, viel schöner singen. Alle werden so stolz auf mich sein, besonders mein Vater, denkt Hope, als ihr vor Müdigkeit schon fast die Augen zufallen. Ihr Blick ruht auf der roten Rose. Hope fällt die Geschichte vom Schmetterling und der Rose ein. Aber sie ist zu erschöpft, umsich die Geschichte in Gedanken zu erzählen. Hope schläft ein.
Es muss so gegen zweiundzwanzig Uhr gewesen sein, daran kann sich Hope viele Jahre später noch genau erinnern, als sie die schweren Stiefel hört, die gegen die kika ihrer Hütte treten.
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