Die Warnung
Berliner Kiez
Ich wohne in Berlin Friedrichshain. Das Haus in der Schreinerstraße muss früher Balkone gehabt haben. Jetzt tritt man beim Öffnen der maroden Balkontür ins Leere. Überall bröckelt der Putz von der Fassade. Die Gründerzeitverzierungen sind an manchen Häusern nur noch zu ahnen. Oft klaffen Wunden im Gestein, Einschusslöcher aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Es dominiert die Farbe grau. Im Parterre betreiben junge Leute einen kleinen Zeitungs- und Zigarettenladen. Sie haben in Eigeninitiative dem Erdgeschoss einen abweichenden Anstrich gegeben. Das Bunte hebt sich ab und passt nicht recht zu dem, was die Augen gewöhnt sind.
Ich liebe diesen Kiez. Im Sommer, wenn alle ihre Fenster und Pseudobalkontüren auch nachts geöffnet haben, fühlt man sich durch Kindergeschrei, Luststöhnen geliebter Frauen oder Wutausbrüche besoffener Ehemänner wie eine große Familie. Da der Weg zur Arbeit immer derselbe ist, trifft man auch immer dieselben Leute. Wir warten dann am U-Bahnhof Samariterstraße auf den gelben Lindwurm, der sich unter Berlin hindurchgegraben hat und der uns, nachdem er uns alle mit einem Mal verschlungen hat, täglich an unterschiedlichen Stellen in der Stadt wieder ausspuckt. Dieser graue Alltag passt zu den Häusern. Die Lethargie verbindet und befriedet. Es entsteht eine Vertrautheit, auch mit denen, die diese Gleichmacherei inzwischen schon als Vision für die gesamte Menschheit proklamieren. Ich denke darüber nach, ob hier im entferntesten Sinne eine ganze Gesellschaft dem sogenannten Stockholm-Syndrom zum Opfer gefallen ist, bei dem die Geiseln ein positives Verhältnis zu ihren Geiselnehmern entwickeln. Es entsteht eine Weltfremdheit, eine Subkultur, in der alle Sinne jede Abweichung umso schärfer aufnehmen, je gleicher sie geschaltet sind. Diese natürliche Gegenreaktion wird uns die Freiheit bringen.
Westfernsehen am Abend, doppeldeutige Sätze, der unvergleichliche Geruch der Waren im Intershop, bunte Farbkleckse dort, wo sie nicht erwartet werden und Kreativität, die aus Mangel Überfluss macht, bedienen unsere inzwischen höchstgradig sensiblen Sensoren. Als ich 1984 das erste Mal ins „nichtsozialistische“ Ausland durfte und auf einem Westberliner S-Bahnhof stand, war ich überfordert von so vielen bunten Schildern, von denen mir nicht wirklich eines den Weg wies. Später hatte ich mir bei meiner Rückkehr in die DDR geschworen, das Bunte zumindest im Ansatz zu leben. Aber nach zwei oder drei Tagen war ich wieder integriert im grauen Trott – allerdings auch sofort wieder sensibel für jede Abstufung dieser Farbe.
Es gibt trotzdem Abwechslung in der grauen Welt. Da ist die tragische Geschichte von der Silvestergesellschaft, die mit ihrem baupolizeilich gesperrten Balkon in die Tiefe gestürzt war. Schon am darauffolgenden Neujahrstag kannte sie fast jeder Friedrichshainer. Abwechslung bieten auch kleinere Kultur-Events, Besuche von Freunden oder alternative Kirchenveranstaltungen. Ansonsten verschwindet der DDR-Bürger am Abend in seinen vier Wänden, die er sich bei bestehendem Wohnungsmangel irgendwie erobert hat. Die Wohnung in der Schreinerstraße hatten wir besetzt, bevor wir sie übernommen haben. Wir hatten uns als Untermieter ausgegeben, sofort nachdem die Vormieterin, eine alte Frau, gestorben war. Die Möbel, die die Erben nicht wollten, haben wir entsorgt. Das war der Deal. Die Wohnung hat kein Bad, aber eine Toilette. Wir haben Glück, andere müssen eine halbe Treppe tiefer steigen und sich das stille Örtchen mit den Mietern in der unteren Etage teilen.
In unserer Nähe sind zwei Kirchen. Die Samariterkirche und die Galiläakirche. In der Samariterkirche und dem Pfarrhaus bin ich mit Stephan Krawczyk, Karl-Heinz Bomberg und anderen Liedermachern aufgetreten. Während der Pfarrer der Samariterkirche, Rainer Eppelmann, eher draufgängerischer Natur ist, erkenne ich in Pfarrer Cyrus in der Galiläakirche den sanftmütigen Hirten seiner Gemeinde. Zu Eppelmanns Veranstaltungen kommt alle Welt und ein Überblick über das Publikum ist kaum möglich. Dagegen kann Gerhard Cyrus sofort ausmachen, wer in der Kirche sitzt. Er lädt hauptsächlich innerhalb seiner Gemeinde ein und macht Konzerte nicht unbedingt öffentlich bekannt. Auch bei meinem Auftritt ist die Kirche nicht ganz voll. Schon vor dem Beginn macht mich der Pfarrer auf ein Paar aufmerksam, das er nicht kennt und das seiner Ansicht nach von der Stasi sein könnte. Die beiden sitzen etwas seitlich und wirken wie Fremde. Sie sind mittleren Alters. Er trägt einen kleinen Schnauzbart, ist sportlich gebaut und sitzt kerzengerade in der Kirchenbank. Sie wirkt unscheinbar und hat ihm gegenüber etwas Untergebenes.
Ich singe passend für die Gegend, für den Abend, für die Gemeinde und alle andächtig lauschenden Zuhörer auch das Lied „Grau“. Es geht letztlich darum, was diese Farbe aus uns macht, um Gleichgültigkeit und um Kompromisse. Es sind kaum Jugendliche im Publikum. In den Gesichtern erkenne ich viel Nachdenklichkeit. Nach dem Konzert spreche ich noch mit einigen Zuhörern und bekomme die Vermutung bestätigt, dass es sich bei ihnen überwiegend um Christen handelt. Die Kirche hat sich geleert. Ich stehe mit dem Pfarrer allein vorn im Altarraum, da entdecken wir, dass das fremde Paar noch nicht gegangen ist. Sie warten im Halbdunkel neben ihrer Reihe. Ich werfe dem Pfarrer einen Blick zu. Er versteht und räumt allein weiter auf. Ich gehe zu den beiden Gästen und reiche ihnen die Hand. Sie geben mir zu verstehen, dass ihnen das Konzert sehr gefallen habe und dass sie tief bewegt seien. Sie sagen das in einer Ehrlichkeit, die in mir keinen Zweifel aufkommen lässt. Auch dann nicht, als sie erklären, dass sie geschickt worden seien und kein Paar wären, sondern Kollegen. Sie kämen nicht von der Stasi, aber von der Polizei. Dann wendet er sich mit den Worten an mich: „Wir haben eine Bitte an Sie, singen Sie in Bad Elster nicht das Lied ‚Grau‘.“ Dann verabschieden sie sich und gehen.
Ich bleibe betroffen zurück und weiß nicht, was ich tun soll. Tatsächlich werde ich am übernächsten Wochenende im Vogtland, in Bad Elster, in der Kirche singen. Die Playlist liegt noch nicht fest. Ich stehe also unter Beobachtung. Ich werde über das Gespräch mit den Polizisten mit niemandem reden, um sie nicht zu gefährden. Die Begegnung lässt mich am Abend nicht einschlafen. Es bleiben Zweifel.
Frühling in Bad Elster
Die Kirche von Bad Elster ist brechend voll. Es sind auch Kurgäste gekommen. Jugendliche sitzen im Mittelgang auf dem Fußboden. Trotz der vielen Menschen könnte man eine Stecknadel fallen hören. Ich habe mich entschieden. Ich singe das Lied „Grau“ nicht. Bin ich feige, gebe ich nach an der falschen Stelle? Ich weiß es nicht. Es ist mir auch egal. Es ist meine Geschichte und meine Entscheidung. Noch am Abend des Erlebnisses in der Galiläakirche hatte ich den Einfall, ein Ersatzlied zu schreiben. Bevor ich das neue Lied in Bad Elster singe, wird es von mir angekündigt: „Und jetzt ein Lied für unsere Gäste.“ Fast alle klatschen. Einige nicht und fallen dadurch auf. Dann singe ich im Frühjahr 1989 ein eigens für dieses Konzert getextetes Frühlingslied: „Wer hinter allem, was er nicht selber spricht, das Böse sieht, begreift am Ende nicht manch Frühlingslied.“
Nach dem Wendeherbst
Den Polizisten, der mich gewarnt hat, konnte ich später ausfindig machen. Wir sind inzwischen befreundet.
Grau
Ich hab eine neue Tönung Grau entdeckt,
Ein Grau, in dem das Grau ganz grausam steckt.
Es ist nicht aus Schwarz oder Weiß geborn.
Es hat seine Herrschaft sich selbst erkorn.
Es schleicht an den Fassaden der Häuser entlang
Und macht auch unsere Hirne mit krank.
Es taucht bis tief in die Seele hinab,
Verwischt die Grenzen, doch baut sie nicht ab.
Ich hab eine neue Tönung Grau entdeckt,
Ein Grau, in dem das Grau ganz grausam steckt.
Es ist nicht aus Schwarz oder Weiß geborn.
Es hat seine Herrschaft sich selbst erkorn.
Es lähmt auch unsre Entscheidungsgewalt,
Verbraucht unsre Kraft, macht uns frühzeitig alt.
Beim Schaffen, was uns zu schaffen erlaubt,