Die Ausweitung des Krieges ab Sommer 1941 ließ Wissenschaftler wie Heisenberg und von Weizsäcker erkennen, dass sie einem „ideologisch geführte[n] Unterwerfungs- und Vernichtungskrieg“131 zuarbeiteten. Walker redet vom „Ende der Unschuld“.132 Die endgültige Wende des Kriegsgeschehens im Winter 1941 führte zu jener Umorientierung der Rüstungsforschung, die Fritz Todt, Reichsminister für Bewaffnung und Munition, schon seit Wochen anmahnte. Es zählte nur noch, was in nächster Zeit einsetzbare Waffen erbrachte. Ob das für das Uranprojekt erreichbar war, blieb 1942 auch bei einer Reihe von Konferenzen kontrovers. Diebner hielt es für möglich, Heisenberg und andere wollten zunächst einmal einen funktionsfähigen Reaktor haben. So verneinte Heisenberg in der Februarkonferenz gegenüber der Generalität die Möglichkeit, binnen neun Monaten eine „kriegsentscheidende Bombe“ herzustellen.133 In der Juni-Zusammenkunft dagegen prägte er Milch gegenüber den berühmten ‚Ananas-Vergleich‘, eine Bombe von deren Größe genüge, um eine Großstadt zu zerstören.134
Die Konferenzen begleiteten im ersten Halbjahr 1942 den Prozess der Umstrukturierung der atomaren Forschungs- und Entwicklungslandschaft;135 ihr Zusammenhalt im Uranverein zerriss darüber nicht. Im Ergebnis zog sich das Heereswaffenamt aus dem Berliner KWI für Physik zurück, konzentrierte sich auf das von Diebner seit 1939 aufgebaute und parallel zum KWI geleitete militärische Forschungszentrum in Gottow.136 Der Vertrag zwischen dem HWA und der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft wurde zwar offiziell erst am 1. Juli 1942 aufgehoben, aber schon vorher erlangte die KWG Verfügungsgewalt über das KWI für Physik; der bei den Wissenschaftlern ungeliebte Diebner wurde entlassen, Heisenberg im Sommer zum Direktor berufen. Gleichermaßen erfuhr der Reichsforschungsrat, nunmehr wieder alleiniger Träger des „Uranvereins“, eine Neuorganisation, wurde im Juni nominell Göring übertragen, faktisch an Speers Reichsministerium für Bewaffnung und Munition angebunden. Leiter der Fachsparte Physik wurde Abraham Esau, seit 1939 Präsident der Physikalisch-technischen Reichsanstalt.137 1942 zum „Bevollmächtigten des Reichsmarschalls für Kernphysik“ ernannt, oblag ihm die Leitung des „Uranvereins“ – sehr zum Unwillen Heisenbergs. Bis zum Sommer 1942 habe „das Uranprojekt wieder fest Fuß gefasst“, so Walker, „der RFR hatte das Projekt übernommen und sicherte damit die kontinuierliche finanzielle Förderung. Sowohl der Präsident der KWG, der Industrielle Albert Vögler, wie auch Reichsrüstungsminister Albert Speer zeigten starkes Interesse an der Forschungsarbeit“.138
Schreiben der Grona GmbH an Prof. Gerlach, Leiter der Arbeitsgemeinschaft für
Kernphysik im Reichsforschungsrat und seit 1944 „Bevollmächtigter für Kernphysik“, 13. Januar 1945 (BA Berlin)
Damit war ab Mitte 1942 die Kernreaktor- und Kernwaffenforschung neu aufgestellt. Beim Militär wurde sie forciert betrieben, in allen Waffengattungen, allen voran vom HWA unter Diebner in Gottow. Von der beim KWI angesiedelten, vom Reichsforschungsrat begleiteten Entwicklungsarbeit erwartete das Regime zwar nicht unbedingt die kriegsentscheidende Waffe, finanzierte sie aber weiter, sogar mit größeren Etats, stellte die darin tätigen Wissenschaftler „u. k.“ und sicherte vor allem den beteiligten Instituten Zugang zu den knappen Ressourcen. Walkers Darstellung des Vorgangs, Heisenberg und Kollegen hätten zu dem Zweck die Uranforschung „verkauft“, ist eher von Goethes Faust inspiriert als zutreffend. Sie waren von Anfang an in die Kernreaktor- und Kernwaffenforschung eher integriert als involviert, arbeiteten durchaus mit der Perspektive, dass daraus ein waffenfähiger Sprengstoff entstehen könne. In der neuen Konstellation entstand ein Wettlauf zwischen Diebner und Heisenberg um das besser funktionierende Reaktorkonzept.139
Diebner kannte vom KWI die Konstruktion des Theoretikers Heisenberg, spaltbares Uran und Moderatoren übereinander zu schichten; er stellte sie in Frage, erprobte in Gottow stattdessen ein räumliches Punktgitter aus Uranoxidwürfeln und hatte damit eine höhere Neutronenausbeute. Walker resümiert: „Die in Gottow erzielten Ergebnisse übertrafen bei weitem alles, was man bisher bei Versuchen in Leipzig oder Berlin-Dahlem erreicht hatte. Höcker wurde gebeten, die Gottower Versuche zu evaluieren und kam zu dem Schluss, dass die Gitterkonstruktion erheblich funktionaler sei“.140 Allerdings wollte Heisenberg Diebners erfolgreicheres Konzept nicht wahrhaben, besaß als renommierter Kernphysiker den längeren Arm und erlangte im Laufe des Jahres 1943, als Esau das Gottower Gittermodell zu unterstützen schien, bei Speer dessen Ablösung als RFR-Fachspartenleiter Physik.
Ihm folgte ab 1. Januar 1944 Walter Gerlach,141 in Personalunion als Chef-Physiker des Reichsforschungsrates, Leiter der Fachsparte Physik des RFR und ab 1944 „Bevollmächtigter des Reichsmarschalls für Kernphysik“. Er nahm die Fäden der vielfach aufgesplitterten Reaktor- und Kernwaffenentwicklung sofort und energisch in die Hand, mit dem Ziel, konvergierend doch noch zur atomaren Wunderwaffe zu gelangen. In Berlin-Dahlem im Harnack-Haus residierend, wenn er sich nicht gerade in seinem physikalischen Institut in München betätigte oder in Stadtilm in Thüringen aufhielt,142 bereiste er unter den schwierigen Bedingungen des Bombenkrieges unermüdlich die im Reich verstreuten nuklearen Entwicklungsstätten bzw. ihre Evakuierungsorte, steuerte den Prozess durch Konferenzen, durch Finanzmittel, vor allem aber durch Zuweisung des raren Materials. Dabei favorisierte er Diebners Arbeiten in Gottow, bewirkte 1944 dessen Zusammenarbeit mit Paul Harteck, Entwickler der Urananreicherung durch Zentrifugentechnik,143 und begünstigte früh das alternative Kernwaffenkonzept mittels Hohlladungen eine thermonukleare Fusion zu erzeugen. Parallel zu den einschlägigen Versuchsanstalten des Heeres (Walter Trinks),144 Versuchsanstalt in Kummersdorf/Gottow und der Marine (Otto Haxel in Dänisch-Niehof), in denen Gerlach in seinen Funktionen beim Reichsforschungsrat ein und aus ging, betrieb er einen eigenen Höchstdruck-Arbeitskreis des Reichsforschungsrates in München, dem auch Rudolf Berthold von der Grona GmbH angehörte.145 Der Arbeitskreis kam auch in Göttingen zusammen, und er vergab Aufträge an die Grona GmbH.146
Mit dem von Prof. Wever geleiteten KWI für Eisenforschung in Clausthal-Zellerfeld, das unter persönlicher Obhut des Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft Albert Vögler stand, tauschte Berthold sich über „für die Herstellung von in Hochdruckgeräten angewandten Stähle“ aus. Eine Kooperation war ebenso für deren Beprobung wie auch für die Untersuchung eines Stahls geplant, „dessen austenitisch-ferritisches Gleichgewicht durch Nickelzusatz in die Nähe der Temperatur herabgedrückt ist, auf die das Hochdruckgefäß ohne Schwierigkeiten gebracht werden kann“. So sollte mit der Versuchsapparatur der Grona GmbH unter Druck die Verschiebung des Übergangs geprüft werden, „indem die Änderung der magnetischen Eigenschaften mit Hilfe der Selbstinduktion einer um die Stahlprobe gewickelten Spule verfolgt wird“.147
Die Magdeburger Firmenzentrale von Schäffer & Budenberg unternahm im Februar 1945 den Versuch, die Verselbständigung ihres Göttinger Zweigbetriebes zurückzuschrauben, indem sie ein „Notverlagerungsabkommen Buckau-Grona“ beschloss, um ihre komplette Herstellung von Kleinmanometerfedern nach Göttingen zu übertragen. Am 8. Februar erteilte sie ihrem Abteilungsleiter Beuthner Weisung, die Grona GmbH entsprechend einzurichten.148 Über die Folgen für ihre Göttinger Firma war sich die Konzernleitung im Klaren. Der geschäftsführende Direktor Otto Klein schrieb Berthold am 12. Februar 1945, dass „die allgemeine Entwicklung weitreichende Auswirkungen auf die Beschäftigung der Grona GmbH haben“ werde. Fraglich sei, „ob es möglich sein wird, Arbeitskräfte und -mittel in gleichem Umfang wie bisher einzusetzen für allgemeine Forschung und für Hochdruckgeräte“. Vielmehr sei es notwendig, die angebahnte Entwicklung zu einer Fertigungswerkstatt weiter voranzutreiben, selbst wenn dies die übrige Betätigung stark einschränke.149
Allerdings musste sich die S & B Konzernleitung erneut den Gegebenheiten beugen. Am 15. März 1945 stimmten die beiden Direktoren Dr. Widdel und Dr. Abel einer Fortsetzung der Arbeiten auf dem Gebiet der Hochdruckforschung zu, scheinbar ohne vorherige Zustimmung des geschäftsführenden