Planetenschleuder. Matthias Falke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias Falke
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Научная фантастика
Год издания: 0
isbn: 9783957770288
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Wesen wusste, dass er von überlasteten Gyroskopen herrührte. Panik malte sich auf die Gesichter. Jill verwandelte sich in eine gläserne Marionette. Reynolds sah aus wie jemand, der unbedacht auf eine dünne Eisfläche geraten ist und nun, vom ersten Knacken aufgestört, nicht mehr zu blinzeln wagt. Der anfeuernde Zuruf, den ich eben noch an Jennifer gerichtet hatte, gefror mitten in der Luft und fiel klirrend zwischen unseren Füßen zu Boden. In Zeitlupe musste ich mit ansehen, wie allen die Augen aus den Höhlen traten, als habe das Vakuum des schlingernden Raumes sich einen Weg in das Innere unseres Mutterschiffes gebahnt. Das Vergnügungsdeck der MARQUIS DE LAPLACE bog und dehnte sich wie ein Objekt vor einem Zerrspiegel. Der Raum und alles, was sich in ihm befand, wurde gekrümmt wie auf einem fehlerhaften Holo. Wir starrten uns an und wünschten aus diesem bösen Traum zu erwachen.

      In diesem Augenblick setzte die Musik aus, die uns im Nachhinein plötzlich unerträglich banal erschien. Die Billardkugeln surrten automatisch auf ihre Nullpositionen in den zwölf Ecken des Schwebekäfigs zurück. Auch an den anderen Tischen erloschen die Anzeigen. Die feurigen Räder der Scheiben-Holos verblassten. Das Licht wurde um mehrere Stufen heller; zugleich büßte es seinen warmen orangeroten Farbton ein und wurde flammend weiß. Es war, als würde eine warme Decke fortgezogen, und der unerbittliche kalte Tag stand zum Fenster herein.

      Mit wohlvertrautem Summen meldete sich die Automatik.

      »Alarmstufe II«, verkündete eine emotionslose Serienstimme.

      Wir hörten, wie sich überall im Schiff die selbsttätigen Schotte aus Titanstahl schlossen. Ein rhythmisches, in raschen Sprüngen näherkommendes Krachen, dem das schmatzende Saugen der Vakuumpumpen folgte. Mit kaum wahrnehmbarem Übergang flackerte das Licht und erstrahlte dann wieder in der vorherigen Schärfe. Die einzelnen Segmente der MARQUIS DE LAPLACE waren nun hermetisch voneinander getrennt, in ihrer Energie- und Sauerstoffversorgung autark und nur noch über einige Serviceschächte und die Steuerung der Automatik miteinander verbunden. Aber auch diese Kupplungen konnten im Notfall in Sekundenbruchteilen gekappt werden. Der Zusammenhalt des Schiffes wäre dann aufgehoben. Die zwölf Segmente würden, von kleinen Aggregaten getrieben, auseinander schweben, jedes mehrere Kubikkilometer an Volumen bergend und manövrierunfähig, aber in Sicherheit, falls es zum Beispiel einen schweren Strahlenunfall im Reaktorblock gegeben haben sollte.

      Was mochte geschehen sein? In den wenigen Augenblicken, die wir wie angewurzelt dastanden, mit unserem irritierten Gleichgewichtssinn kämpften und auf weitere Durchsagen warteten, blitzten in rascher Folge mögliche Ursachen der Störung durch mein Hirn, die ebenso schnell vorgeführt wie verhandelt und abgeurteilt wurden. Eine Kollision oder ein sonstiger externer Grund konnte ausgeschlossen werden. Die einzige Möglichkeit, die mir plausibel schien, war ein Unfall bei Reparaturarbeiten. In einem der vorderen Segmente, dem langen Weg nach zu urteilen, den die Geräusche bis zu uns genommen hatten, musste es eine Explosion gegeben haben.

      Jennifer hatte ihr Queue abgeschaltet und den Holo-Stick in den Billardkäfig geworfen, wo er von selbst in der Stand- By-Position einrastete. Intuitiv hatten wir alle eine breitbeinige Stellung eingenommen, die wir mit abgewinkelten Armen ausbalancierten.

      Ein Knistern war in der Leitung. Dann löste Dr. Rogers' texanischer Dialekt das nervtötende Summen der schweigenden Automatik ab.

      »An alle«, donnerte er in grimmigem Kasernenton. »Ein unbekanntes Objekt hat das Zentrale Steuermodul der MARQUIS DE LAPLACE getroffen. Der Schaden wurde lokalisiert und eingedämmt. Ihn zu beheben, wird allerdings länger dauern. Grund zur Beunruhigung besteht keiner – wenn man davon absieht, dass wir auf absehbare Zeit manövrierunfähig sind.«

      Obwohl er nur den Audiokanal benutzte, sah ich ihn vor mir, wie er ein diabolisches Grinsen aufsetzte, als er noch hinzufügte: »Wird also nichts aus dem Wochenendtrip nach Luna III.«

      Mit einem Knall, der an zusammengeschlagene Hacken erinnerte, ließ er den Kanal zuschnappen. Für einen Augenblick waren wir alle wieder Kadetten, die unter seinen gebrüllten Kommandos zusammenzuckten.

      Die Automatik verlas nun lange Durchsagen, in denen Rettungs- und Reparatureinheiten in die oberen Decks von Segment I beordert wurden. Der Tatsache, dass keine Sanitäter angefordert wurden, entnahmen wir, dass Menschen nicht zu Schaden gekommen waren. Die Antriebs- und Steuermodule in Segment I arbeiteten, ebenso wie die Reaktorblocks in den Segmenten X - XII, vollkommen automatisch. Nur alle paar Tage verirrte sich ein Servicetrupp dorthin. Andererseits schien der Schaden beträchtlich zu sein. Nicht nur ganze Geschwader von Technikern wurden nach Segment I kommandiert, sondern auch eine Gruppe an Bordingenieuren.

      Reynolds fragte an, ob er sich zur Verfügung stellen solle, behielt aber den groben Bescheid, man komme ohne ihn zurecht. Ich vermutete dahinter die alte Rivalität zwischen den »Festen« von der Planetarischen und der fliegenden Crew, die einander gegenseitig für unfähige Drückeberger hielten. Es musste einer der beiden Parteien das Wasser schon bis zum Haaransatz stehen, ehe sie die andere um Hilfe bat. Hier, an Bord der MARQUIS DE LAPLACE, waren wir Enthymesis-Offiziere im Urlaub. Frontsoldaten in der Etappe, die es längst aufgegeben haben, die Langweiler vom Nachschub mit ihrem Seemannsgarn beeindrucken zu wollen.

      Reynolds schaltete fade lächelnd seinen Kommunikator ab und zuckte mit den Schultern. Er wäre auch eine Weile unterwegs gewesen von den Vergnügungsdecks in Segment VI, wo wir uns befanden, zur Steuerungseinheit am Bug des Schiffes, mehr als fünf Kilometer entfernt, zumal die Schotte geschlossen waren und er sich im Servicetunnel Block für Block hätte nach vorne arbeiten müssen. Eigentlich beschäftigte uns auch etwas ganz anderes.

      Langsam nur stieg ein lähmendes Prickeln aus der Magengrube auf und verzweigte sich über den Rücken, bis es die Zonen des Bewusstseins erreichte. Es gibt Situationen, in denen man längst wahrgenommen hat, was als Gefahr erst mit Verspätung begriffen wird, etwa wenn man in einer fremden Stadt unterwegs ist und mit einem Mal feststellt, dass man die Orientierung verloren hat und in ein zwielichtiges Viertel geraten ist. Plötzlich wird es dunkel, man befindet sich in einer Sackgasse und aus den Haustüren glotzen einen finstere Gestalten an.

      Jennifer hatte den Impulsgeber vom Bord genommen und spielte damit herum, ein Zeichen von Nervosität. Ich kannte sie gut genug, um zu spüren, dass sie außerordentlich beunruhigt war.

      »Wie konnte das geschehen?«, fragte sie.

      Ihr Blick war der einer Ausbilderin, die einen Rekruten fragt, warum seine Uniform so vorschriftswidrig sitzt.

      Tatsächlich war kaum zu begreifen, wie ein solcher Impakt möglich sein sollte. Die MARQUIS DE LAPLACE war das größte und modernste Schiff der Union. Das Deepfield-Radar ihrer Vorfeldaufklärung griff Millionen Kilometer tief in den Raum aus; ihre automatische Überwachung kontrollierte die Flugbahnen mehrerer tausend Objekte. Diese überscharfen Sinne waren auf Sub-Warp-Passagen berechnet, auf die Durchquerung des Kuipergürtels oder der Oortschen Wolke. Dass ihnen auf der öden Höhe der Neptunbahn ein herumschwirrendes Steinchen entgangen sein sollte, war kaum vorstellbar. Langsam und widerstrebend, wie man in eiskaltes Wasser eintaucht, mussten wir uns klarmachen, dass der aktuelle Schaden gar nicht das eigentliche Problem darstellte, sondern nur Symptom eines wesentlich gravierenderen war.

      Das Schlingern und Krängen, das das Schiff durchzitterte, hielt an. Als langjährigen Mitgliedern der fliegenden Crew konnte es uns physisch nicht viel ausmachen. Dafür erfüllte es uns mit einer umso größeren seelischen Qual. Wir spürten, wie die virtuellen Gyroskope auf Hochtouren liefen. Verzweifelt wie ein Boxer, der einen betäubenden Schlag aufs Ohr erhalten hat, rang unser Schiff darum, seine Bahn zu halten. Oder, wie es mich plötzlich durchzuckte, einer weiteren Bedrohung auszuweichen.

      »Sie kämpft«, sagte Lambert. »Aber sie kommt vom Kurs ab.«

      Reynolds schüttelte langsam den Kopf. Es sah aus wie eine rätselhafte Pantomime.

      »Nein«, sagte er in seiner gedehnten Sprechweise, die immer, wenn er einer Sache auf der Spur war, zu einem langgezogenen Band aneinanderhängender Vokale wurde. »Sie versucht zu reagieren.«

      Jennifer nickte aufgeregt. In rascher Folge ließ sie den Impulsgeber in ihrer Hand aufleuchten und wieder verschwinden.

      »Sie will nicht beharren, sondern