Die Tage von Gezi. Martin Niessen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Niessen
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Короткие любовные романы
Год издания: 0
isbn: 9783957442017
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bei mir ist alles gut. Ich habe zu Hause geschlafen. Aber das erzähle ich dir alles gleich. Wie geht es dir? Wo bist du?«

      »Ich bin mit den anderen auf dem Taksim-Platz. Ich habe nichts abbekommen. Die anderen auch nicht. Aber wir werden wieder in den Park gehen, sobald sich die Polizei zurückzieht.«

      »Okay, ich bin gleich da.«

      Mine rannte zur Metrostation Osmanbey und nahm den nächsten Zug nach Taksim, während sie in diversen sozialen Netzwerken die Nachrichten zu den Ereignissen der Nacht und des Morgens überflog. Es waren so viele, dass sie gar nicht dazu kam, auch noch die zahlreichen Videos anzuschauen, die da gepostet worden waren. Şebnem und sie hatten sich vor der Filiale einer amerikanischen Kaffeehauskette neben dem Marmara Hotel verabredet. Auf der zu dem Café gehörenden Terrasse saß bereits ihre Freundin, zusammen mit ein paar jungen Leuten, von denen Mine nicht alle kannte. Sie grüßte in die Runde und umarmte Şebnem, als sei ihre Freundin gerade von einer jahrelangen Weltreise zurück oder gar von den Toten auferstanden. Şebnem befreite sich lachend aus ihrer Umklammerung.

      »Hol dir erst einmal einen Kaffee, den brauchst du, so wie du aussiehst. Bist du oder bin ich mit Gas eingenebelt worden?«

      Mine war froh, dass ihre Freundin schon wieder lachen und Witze machen konnte. Sie stand gerade an der Kasse, als sie eine Nachricht von Marc bekam. Er sei auf dem Weg zum Dolmabahçe, schrieb er. Und dass er sich melden würde. Mine tippte eine kurze Antwort ins Handy und setzte sich dann mit ihrem Latte macchiato im Pappbecher und einem Schokoladenmuffin zu den anderen.

      »Erzähl!«

      Und Şebnem begann zu erzählen. Dass sie am Vorabend, als Mine mit Meltem, Serap, Erol und dem Engländer verschwunden war, mit ein paar Freunden noch ein spontanes Konzert im Park besucht und heftig mitgetanzt hatte. Dass sie dann irgendwann, weit nach Mitternacht, in ihr Zelt gegangen war, sich aber keine Sorgen gemacht hatte, dass Mine nicht da war, weil sie sie ja mit den anderen unterwegs wusste, und bald einschlief. Dass sie aufwachte, weil plötzlich alle um sie herum zu schreien und mit Sprechchören begannen: »Gezi bizim, Taksim bizim«. Dass sie noch gar nicht richtig aus dem Zelt gekrochen war, als plötzlich alle wegrannten und die ersten Tränengasgranaten zwischen den Zelten einschlugen. Dass sie im Halbdunkel – es dämmerte gerade erst – nur noch ihre Schuhe und ihren Tagesrucksack griff – glücklicherweise hatte sie sich nicht ausgezogen, weil die Nacht recht frisch gewesen war – und auch weglief, auf nackten Füßen, als sie einen Wasserwerfer und eine Hundertschaft der Polizei auf sich zukommen sah. Dass die Menschen um sie herum in Panik waren, manche taumelten und zusammenbrachen, wenn neben ihnen eine Granate explodierte und Gas verströmte. Dass die Polizisten mit ihren Knüppeln auf die einschlugen, die stehen blieben, um denen zu helfen, die gestürzt waren, und auf die selbst auch. Dass im Strahl der Wasserwerfer Menschen und Zelte wie Blätter im Wind herumgewirbelt wurden. Dass ihre Augen tränten, ihre Lunge brannte, weil der Gasnebel überall war und sie nicht mehr wusste, wie sie es aus dem Park heraus geschafft hat. Dass sie irgendwann, da war es bereits hell, auf einer Bank vor dem Divan Hotel am nördlichen Ausgang des Parks saß und ihr jemand Wasser ins Gesicht schüttete, um das Gas aus ihren Augen zu spülen.

      Mine hörte sprachlos zu, während der ungekaute Bissen des Muffins vom Speichel zu einem Brei verarbeitet wurde und ihr schließlich in den Rachen lief, sodass sie einen Hustenanfall bekam. Als sie sich schließlich gefangen hatte, krächzte sie nur noch:

      »Scheiße, Vedat hat mir gesagt, dass es so kommen würde. Aber ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell passiert.«

      Sie erzählte Şebnem von dem Streit mit ihrem Mann.

      »Ich hätte dich direkt anrufen müssen, um dich zu warnen. Es tut mir leid. Diese Bastarde!«

      In diesem Moment klingelte Mines Telefon. Es war ihre Mutter, die sich ganz aufgeregt erkundigte, wo sie sei und wie es ihr gehe. Mine beruhigte sie, sagte, dass es ihr gut gehe und dass sie zu Hause geschlafen hätte. Den ersten Teil der Frage ignorierte sie und würgte das Gespräch ab. Es sei gerade schlecht, sie würde sich später melden. Sie drehte sich wieder zu ihrer Freundin um.

      »Ich rufe jetzt Marc an, weißt du, der englische Journalist, mit dem ich gestern unterwegs war. Dem musst du das alles erzählen.«

      Bevor Şebnem irgendetwas erwidern konnte, hatte Mine bereits Marcs Nummer gewählt, es klingelte auch, aber er ging nicht dran. Marc war ein guter Typ, fand sie. Nicht optisch, groß und blond zwar, mit markantem, scharf geschnittenem Gesicht und sympathischen Lachfalten um die Augen, aber zu schlaksig für ihren Geschmack. Und auch ein bisschen zu alt, er könnte ja fast ihr Vater sein. Aber er hatte Humor und unglaubliche Geschichten von seinen Einsätzen als Reporter erzählt. Gleichzeitig strahlte er eine große Ruhe und Besonnenheit aus. Marc hier zu wissen würde ihr Sicherheit geben, denn Şebnems Erzählungen hatten ihr, auch wenn sie es natürlich nicht zugab, doch etwas Muffensausen bereitet. Sie probierte es wenig später ebenso erfolglos noch einmal. Es klingelte lange, bis die Ansage kam, dass der angerufene Teilnehmer vorübergehend nicht zu erreichen war. Als alle ihren Kaffee ausgetrunken hatten, ging die kleine Gruppe über den Platz zum Eingang des Parks. Die Polizisten ließen sie passieren. Es war deutlich voller als gestern Nachmittag, stellte Mine überrascht fest. Und das knapp sechs Stunden, nachdem die Polizei den Park geräumt hatte. Was für eine Strategie verfolgen die Behörden?, dachte Mine, und dass sie Vedat anrufen müsse. Vielleicht wusste er ja, was die Polizei vorhatte. Durch die verschiedenen Eingänge sah sie Menschen in den Park strömen, die meisten jung, aber auch viele, die deutlich älter waren als sie und ihre Freunde, manche sogar im Alter ihrer Eltern. Şebnem und sie machten sich auf, um ihr Zelt zu suchen. Da, wo es gestanden hatte, stand nun ein neues. Im Gras daneben leuchtete etwas rot – ein angekokeltes Stück Schaumstoff, der sich bei näherer Betrachtung als Rest von Vedats Luftmatratze entpuppte. Soll er sie sich doch von seinen tollen Kollegen ersetzen lassen, dachte Mine mit plötzlicher Bitterkeit.

      Die beiden beschlossen, mit der Metro zu einem Einkaufszentrum zu fahren, in dem es ein Outdoorgeschäft gab. Sie suchten sich zwei günstige Schlafsäcke aus, zwei einfache Isomatten aus Schaumstoff und ein Zweimannzelt. Da es Şebnems Zelt gewesen war, das die Polizei bei der Räumung zerstört hatte, bezahlte Mine das neue. Ihre Eltern waren großzügig, vor allem ihr Vater steckte ihr immer wieder Geld zu, zusätzlich zu dem Konto, das er für sie eingerichtet hatte und monatlich mit einer Summe auffüllte, mit der sie ziemlich gut über die Runden kam, ohne neben dem Studium arbeiten zu müssen.

      Zurück im Park suchten sie sich einen Platz, was gar nicht so einfach war, denn es schien fast, als ob halb Istanbul im Gezi-Park zelten wollte. Die Zahl der Demonstranten war im Laufe des Tages auf sicherlich zehntausend angewachsen, an provisorischen Ständen wurden kostenlos Essen und Getränke ausgeben, die Sympathisanten gespendet hatten. Zum Schutz gegen Tränengas wurden Masken verteilt, wie sie Mediziner im Operationssaal trugen, oder solche, die Bauarbeiter oder Handwerker benutzen, wenn es bei der Arbeit ordentlich staubt. Medizinstudenten hatten ein mit einem roten Kreuz markiertes Pavillonzelt aufgestellt. Auf zwei Tischen standen neben Verbandsmaterial und Pflaster auch Sprühflaschen mit einer wässrigen Lösung bereit.

      »Das ist Maaloxan.«

      Şebnem hatte ihren fragenden Blick richtig interpretiert.

      »Ein Medikament gegen Magenbeschwerden, das mit drei Teilen Wasser gemischt wird und das Gas neutralisiert.«

      »Woher weißt du das? Hast du, ohne dass es mir aufgefallen ist, von Jura auf Medizin umgesattelt?«

      »Nein.«

      Mines Freundin lachte.

      »Das hat mir Ersin erklärt, der schlaksige Typ mit dem Anarchie-A auf dem T-Shirt, der eben mit Kaffee trinken war, weißt du? Der ist nicht nur Medizinstudent, sondern auch sehr erfahren mit Reizgas. Er ist in der ÇARŞІ.«

      ÇARŞІ, die schon legendäre Fanvereinigung von Beşiktaş, dem Fußballclub, dessen Stadion unterhalb des Taksim-Platzes am Bosporus lag. Mine hatte nicht viel Ahnung von Fußball, Vedat zog sie mit ihrer Unkenntnis immer auf, aber sie interessierte sich einfach nicht dafür. Doch die ÇARŞІ kannte selbst sie. ÇARŞІ hieß eigentlich nur »Markt«, aber