Nicht nur im Mittelalter, sondern auch in der Neuzeit bis in die unmittelbare Gegenwart wurden also systematisch Dokumente vernichtet und somit auch die Geschichtsschreibung verfälscht.12 Auch Ereignisse und Sachverhalte der Geschichte der christlichen Ketzer, zu welchen die Kirche beispielsweise die Templer zählte, kennen wir nur aus der Sicht der Sieger. Denn die Überlieferung der Templer war weitestgehend ausgemerzt worden. Wahrscheinlich sind aber jüdische Quellen noch viel mehr vernichtet worden als die der sog. Ketzer, wobei sicher nicht alle gegen die jüdische Tradition gerichteten Zerstörungen der Nachwelt überliefert sind. Vermutlich wurden auch unter der Herrschaft des Nationalsozialismus nicht nur Synagogen und hebräische Kultobjekte, sondern auch immer wieder jüdische Quellen und Bücher verbrannt.
Sichere Nachweise für eine massive Verbrennung hebräischer Bücher um 1500 herum bringen Vogl und Benzin im Kapitel „Der Streit um die Vernichtung der hebräischen Bücher“ ihres Buches „Die Entdeckung der Urmatrix“.13 Der Hauptinitiator dieser Zerstörungsaktion und Gegenspieler von Reuchlin war Jakob Hoegstraeten, Prior des Dominikanerkovents zu Köln und Inquisitor. Um „den Keim der Ketzerei zu ersticken“, wurden vor allem jene Werke ein Opfer seiner Zerstörungswut, „welche sich in irgendeiner Weise gegen das Christentum aussprachen“. Dazu gehörten seiner Meinung nach „so gut wie alle Werke hebräischen Ursprungs“, vor allem die kabbalistischen Schriften. Vogl-Benzin vermuten, dass damals „große Schätze kabbalistischen Wissens den Flammen übergeben worden sein“ müssen. Reuchlin sah in diesen Zerstörungsorgien die Vernichtung des „vom Schöpfer an ADaM übergebene[n] und an die gesamte Menschheit gerichtete[n] Wissen[s] der Schöpfung“ und zudem auch „ein Werk des Teufels selbst.“14 Der Streit, der sich daraus zwischen Hoogstraeten und Reuchlin entwickelte, war auch ein Konflikt zwischen der mittelalterlichen Scholastik und dem Humanismus. Letzterer war nach herrschender Auffassung mehr als die Scholastik dem Geist der Renaissance15 verbunden.
Der aufgeklärte und weltoffene Geist der Renaissance wird allerdings seit einigen Jahren selbst von den amtlichen Historikern zunehmend in Frage gestellt. So stellte der amerikanische Historiker William Bouwsma ernüchtert fest, dass „das gesamte Konzept der Renaissance als einer aufgeklärten Epoche fragwürdig geworden sei“16, und zog daraus den Schluss eines „collapse of the traditional dramatic organisation of Western history“.17
Die Renaissance war tatsächlich alles andere als die von vielen zeitgenössischen europäischen Historikern noch heute gefeierte „Epoche humanistischer Aufklärung“.18 Es gab nämlich am Ende des Mittelalters und in der frühen Neuzeit weder wirklichen Humanismus noch echte Aufklärung. Denn immerhin wurden damals Menschen und Bücher verbrannt.
Aus diesen bisher gern übersehenen Tatsachen kann man wie gesagt den Schluss ziehen, dass das Bild der Juden in der europäischen Geschichte durch diesen bewusst erzeugten Quellenmangel (als Folge der massiven Büchervernichtung) nicht nur unvollständig und teilweise sogar entstellend ist, sondern auch die Leistungen der Juden in Wirtschaft, Kunst und Kultur bisher nicht ausreichend dokumentiert und dargestellt worden sind.
Schon vor langer Zeit war mir aufgefallen, dass bestimmte historische Sachverhalte einfach nicht zusammenpassen. Mir wurde immer mehr klar, dass nur die Juden mit ihrer großen internationalen Tradition in der Lage gewesen sein können, umfassende kulturelle und wirtschaftliche Entwicklungen in Gang zu setzen und voranzutreiben. Diese Gedanken trug ich ein Leben lang in mir, bis ich auf die Werke von Davidson und Landau19 gestoßen bin.
Vor allem die wegweisenden Arbeiten von Davidson verstärkten meine ein Leben lang in mir ruhenden Zweifel, ob die bisherige Sicht der Geschichte, vor allem der Antike und des Mittelalters, gelinde ausgedrückt, nicht korrekturbedürftig sei. Ralph Davidson hat es gewagt, als einer der ersten historische Tabus der europäischen Kulturgeschichte in Frage zu stellen.20 Davidson hat eine fast unlösbare, aber absolut notwendige Aufgabe in Angriff genommen und dabei tatsächlich erfolgreich eine Reihe von historischen Tabus gebrochen. Es ist sehr zu hoffen, dass die konventionellen Geschichtsforscher durch seine Thesen provoziert werden, sich sachlich mit seinen Forschungsergebnissen auseinanderzusetzen. Wahrscheinlicher aber ist, dass man ihn totschweigen wird.
Sehr verdienstvoll ist es, dass Davidson die von den Historikern so sträflich vernachlässigte Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in ausgeprägter Kombination mit den historischen Hilfswissenschaften (Epigraphik21, Paläographie, Genealogie etc.) wesentlich mehr als üblich für sein Werk heranzieht und damit zu Fragestellungen kommt, die beachtenswert neue Ansätze dafür liefern, wie Feudalismus, Industrialismus, Kapitalismus und überhaupt die europäische Zivilisation entstanden sind.
Allzu viele Historiker sind m. E. allerdings nicht in der Lage, in größeren Zusammenhängen zu denken. Sie sind zu sehr auf ein enges Fachgebiet begrenzt und nehmen allzu leichtgläubig historische Überlieferungen kritiklos zur Kenntnis. Hinzu kommt noch, dass es den meisten Historikern an umfassenden und fundierten Sprachkenntnissen fehlt. Es gibt kaum einen deutschen Historiker, der z. B. mit der für die Antike so wichtigen hebräischen Sprache vertraut ist. Ohne die Einbeziehung hebräischjüdischer Quellen ergibt sich „ein unvollständiges Bild der jüdischen Kultur in Deutschland“22 und wohl auch in Europa. Viele Historiker verfügen auch nicht über solide Kenntnisse des Griechischen und Lateinischen, von slawischen Sprachen ganz zu schweigen. Bereits Cosmas von Prag beklagt sich in seiner zu Beginn des 12. Jahrhunderts publizierten Chronik der Böhmen (Chronica Boemorum) über „die den Deutschen angeborene Arroganz“ und „deren hochnäsige Ablehnung der Slawen und ihrer Sprache.“23 Die Ausgrenzung der slawischen Sprachen und Kulturen in West- und Mitteleuropa hat also eine lange ‘Tradition’.
Wirklich neue Erkenntnisse zu den Fundamenten der europäischen Kultur sind nur zu erwarten, wenn Historiker verschiedener Epochen und Fachgebiete bereit sind, mit Wissenschaftlern anderer Fachgebiete international zusammenzuarbeiten. Es wäre fürs Erste aber überhaupt schon ein großer Fortschritt, wenn die zweifelhaften, unsicheren und vielfach gefälschten Quellen der Antike und des Mittelalters mit den Methoden, Kenntnissen und Erkenntnissen des 21. Jahrhunderts völlig neu analysiert würden.
Es ist Ralph Davidson zu danken, solch einen neuen Anfang versucht zu haben. Sein zentrales Anliegen ist es, die wesentlichen Faktoren des europäischen Zivilisationsprozesses zu finden. Dazu sammelt er zunächst einmal die harten Fakten. Das zentrale Ergebnis seiner umfassenden Faktensammlung und Fakteninterpretation: Die Grundlage der europäischen Zivilisation scheint weder die griechisch–römische Antike noch das „aufsteigende Bürgertum“ des Mittelalters24 und der Neuzeit zu sein, sondern primär das Juden-Christentum.25 Dieses hat nicht primär als Religion, sondern als kulturelle Institution Entwicklung und Aufstieg Europas angestoßen und gefördert. Diese Erkenntnis ist ein völlig neuer Denk- und Forschungsansatz in der europäischen Geschichtsforschung.
Fälschungen des Mittelalters
Nicht nur konventionelle Mediävisten halten die Verfälschung von zahlreichen Urkunden, Chroniken und anderen Quellen des Mittelalters über die Karolingerzeit26 hinaus in steigendem Maße für eine Selbstverständlichkeit. Wie bei keiner anderen Epoche des Mittelalters besteht zudem in der karolingischen Epoche eine auffallende Divergenz zwischen literarischer Überlieferung und archäologisch-architektonischen Relikten, übrigens auch für Karls Residenzstadt Aachen. Es scheint, dass in der Zeit der Karolinger noch mehr als in den nachfolgenden Jahrhunderten des Mittelalters Ereignisse und Dokumente erfunden, manipuliert, gefälscht und vernichtet worden sind. „Bis zu 50 Prozent der erhaltenen Urkundentexte aus dem Frühmittellalter