Der Morgen des Aufbruchs
Noch so eine irritierende Änderung des Ablaufs: Um Viertel nach vier am Morgen klingelt der Handy-Wecker, vier Stunden eher als sonst. Für Hoover ist es die falsche Zeit. Für mich auch. Er blinzelt irritiert, hebt kurz das Köpfchen, sieht mich aufstehen und im Bad verschwinden – und schießt plötzlich hoch, als wären ihm in der Sekunde all die Koffer, Taschen und Tüten eingefallen, die ich am Vorabend nach und nach im Kofferraum verstaut hatte. Auch den mit Ball und Tau, dazu eine Kiste mit Futter, Leckerlis, Hundedecke, Kamm, Tiermedizin, mit Leucht-Halsband, dem Kauknochen-Vorrat und zwei Hundertschaften Kot-Tütchen aus hauchdünner Folie. Und mit noch mehr Spielzeug.
Er schiebt die Tür auf, drängt resolut mit ins Bad, versucht mich mit Blicken zu hypnotisieren, und entschließt sich wieder zur erfolgversprechenden Im-Weg-liege-Taktik. Auf sein Futter hat der normalerweise durchaus verfressene Kerl mit dem schwarzen Fell um diese Zeit und, mehr noch, unter diesen aufregenden Umständen wenig später gar keine Lust. Er schnüffelt nur kurz daran. Zum Glück findet er Zeit, zwei sehr große Abschieds-Seen in den Garten zu setzen, ehe er den Tintenfisch packt und zur Haustür läuft. Sein Blick fragt: »Wann geht es denn nun los?« Und derselbe Blick sagt: »Natürlich komme ich mit!« Natürlich, denn ohne wäre ja doof.
Er trampelt vor der Autotür unruhig von einem Bein aufs andere, als ich ihm das Korsett anlege, an dessen Halterung wenig später der Hunde-Sicherheitsgurt befestigt wird. Und endlich sind letzte Zweifel zerstreut: Er ist drin, die Tür ist zu. Und der Tintenfisch liegt direkt neben ihm. Hoover schläft sofort. Fünf Stunden lang tief und fest. In Höhe der Eifel wacht er auf, reckt und streckt sich, legt kurz vorm ersten ohnehin notwendigen Tankstellenstopp sein Köpfchen auf meine Schulter und lässt es immer schwerer und schwerer werden. In der Hoover-Sprache bedeutet das: Der nächste Rastplatz ist meiner. Ich muss mal. Kein Problem, ich auch.
Boxenstopp in der Eifel
Was Hoover bereits als Kleiner gelernt hat, nachdem er ein paar Mal zu übermütig war und umgehend wieder ins Auto zurückgekrempelt wurde: Das Signal, herausspringen zu dürfen, ist nicht die geöffnete Wagentür, auch nicht das befreiende Klicken des Hunde-Sicherheitsgurts, sondern erst das Kommando »Jetzt komm!«. Er hält sich dieses Mal bravourös daran, obwohl er enorm aufgeregt ist. »Deswegen also«, scheint sein Blick zu sagen. »Wegen dieses Parkplatzes mit dem Wäldchen links und dem noch kleineren rechts vom Auto! Deshalb sind wir so früh aufgestanden, so viel gefahren! Hier machen wir Urlaub!«
Er scheint nicht sonderlich wählerisch zu sein, springt erst vor Freude an mir hoch, dann ein paar Mal mit allen Vieren gleichzeitig in die Luft – um sich schließlich zu erinnern, was ihm vor einem Moment noch so wichtig war: Er macht erst mal einen See an den erstbesten fast entlaubten Haselnussstrauch und ist gleich danach kaum zu halten. So spannend findet er es hier, so viele neue Gerüche scheint er aufzusaugen, einzusammeln geradezu.
Ob ich mich auch so freuen würde, wenn ich Hund wäre? Wenn ich zweieinhalb Jahre alt wäre? Die Welt entdecken wollte? Und nicht wüsste, dass es schönere Ziele als einen rappeligen und an diesem Dezember-Sonntagmorgen fast geisterhaft leeren Autobahnrastplatz an der A1 gibt? Wenn ich nicht wüsste, dass wir noch 1800 Kilometer vor uns haben und der Sonne und dem Frühling entgegen reisen wollen? In ein Ferienhaus hoch über einem Orangenhain, von der Veranda aus mit Blick aufs drei Kilometer Luftlinie entfernte Meer, auf diesen breiten blauen Streifen da am Horizont direkt unterhalb des Himmels? In ein Häuschen mit Pool in einer Sackgasse am Rande der Wildnis, wo man weit und breit eher eine Schafherde trifft als einen Trucker mit halb offener Hose auf dem Weg zum Rastplatz-Klo? Ich beschließe, mich mit Hoover zu freuen: über ihn, übers Beinevertreten, aufs Frühstück und zwei Becher Tee aus der Thermoskanne. Und auf die Weiterfahrt, auf nach und nach wärmere Temperaturen, auf den Duft der Provence am späten Nachmittag, den Seewind im Süden des Languedoc-Rousillon am Abend. Und auf Spanien!
Er ist immer noch ganz euphorisch, scheint sich mit noch mehr Glückssprüngen und mit sehr herzlich gemeinten Anschlabber-Attacken für die Auswahl dieses tollen Ferien-Rastplatzes bedanken zu wollen und schaut zwischendurch nur kurz etwas irritiert, als ein Motorrad im Vorbeirasen eine Fehlzündung verursacht. »Der Hund ist schussfest«, würde es im immer etwas seltsamen Jäger-Jargon heißen und nicht etwa meinen, dass er kugelabweisend wäre, leider, sondern dass er sich nicht erschrickt, wenn es knallt.
Zwei im Akkord leer getrunkene Wassernäpfe und eine nachgeholte Hundsmahlzeit später kann Hoover sein Schicksal nicht fassen. »Was denn?«, sagt der Blick, als ich ihm das Korsett für den Sicherheitsgurt wieder umlege. »Doch nicht hier Urlaub machen, wo so viele Hunde ihre Nachrichten ins von Raureif überzogene Gras geschrieben haben und es noch so viel zu erschnuppern gibt? Haben wir womöglich ein noch tolleres Ziel?« Kurz überlegt er, dann lässt er sich darauf ein, dass ich das in unser beider Sinne entschieden haben werde, und springt wieder in den Wagen. Wir setzen Kurs Richtung Luxemburg.
Hund ohne Handy
Wie gut, dass es auch in Luxemburg Tankstellen gibt. Und dass Tankstellen Toiletten haben, denn wer zwei Becher Tee trinkt oder zwei Näpfe leer schlabbert, kommt nicht allzu viel weiter. Kaum hundert Kilometer, und dann gibt es keine Wahl. Erst hat Hoover auf einem Grünstreifen Druck abgelassen, dann bin ich auf dem Tankstellenklo dran – und bedauere das erste Mal, dass Hunde keine Handys haben. Sonst hätte ich ihn angerufen und gebeten, im Kassenhäuschen eine eilig hingebellte Nachricht loszuwerden: dass die verdammte Tür des Mini-Waschraums zwar mit Hilfe des mit Draht an einer leeren Öldose befestigten Schlüssels zu öffnen war, aber in Gegenrichtung ziemlich wenig geht. Der Türdrücker klemmt, will nicht mehr nach unten gehen, und mit dem Schlüssel ist dabei auch nichts zu wollen. Ich sitze im Waschraum der Tankstelle fest, mit Tür zur Straße statt zum Kassenbereich mit den Süßigkeits- und Zeitschriftenregalen.
So bleibt mir nur, erst zu rütteln, zu zerren, zu drücken, noch mal in aller Ruhe, dann wieder die etwas gröbere Variante. Nichts geht.
Ich versuche es schließlich mit osteopathischen Techniken: hier ein gewisser Druck mit dem Knie gegen den Rahmen, dann mit der Hand den Drücker erst versuchsweise leicht anheben. Das klappt! Nun herunterdrücken, mit der anderen Hand im selben Moment gegen den Beschlag stemmen. Das gelingt auch – und prompt fällt die Tür auf. Endlich! Zum Glück!
Und auf der Weiterfahrt male ich mir aus, wie Hoover mit einem Mobiltelefon umginge. Wahrscheinlich wäre es eher ein Smartphone in iPad-Größe. Mit ausreichend Fläche eben, um mit der rechten Vorderpfote Tasten zu drücken und zu wischen. Ob er SMS-Mitteilungen oder WhatsApp-Nachrichten an andere Hunde schriebe? Ob man auf Tastendruck vielleicht sogar vorprogrammierte Kläff-Tonfolgen verschicken könnte? Manchmal mache ich mir solche absurden Gedanken, weil ich mich an den slapstickhaften Bildern erfreue, die dann vor meinem inneren Auge entstehen.
Hoover jedenfalls hat weder von meinem Missgeschick noch meiner Aufregung etwas mitbekommen, wartet seelenruhig auf der Rückbank des Autos auf dem Tankstellenparkplatz und begrüßt mich beim Einsteigen so herzlich wie eh und je bei solchen Gelegenheiten. Ohne sein festgeklicktes Sicherheitsgeschirr wäre er inzwischen über die Schutzabhängung nach vorne geklettert und hätte pflichtbewusst auf dem Fahrersitz