Hindernisse
Allerdings sollte man mit einer einmal getroffenen Entscheidung, wie zum Beispiel der Neuausrichtung in einer Partnerschaft oder im Beruf, nicht die Illusion verknüpfen, dass ab sofort alles ganz anders wird - nur, weil man sich entschieden hat (oder gerade Silvester ist). Es kommt ja zur eigenen Entscheidung meist noch eine äußere Umgebung - beispielsweise in Form anderer Menschen - hinzu. Schließlich gilt der Mensch gemeinhin als soziales Wesen. Hier - in der sozialen Umgebung - wird diese persönlich mit scheinbar großer Klarheit getroffene Entscheidung unter Umständen täglich von Neuem auf ihre Ernsthaftigkeit getestet. Da wird der klare Vorsatz zur beruflichen Veränderung durch unvorhergesehene Einwände aus dem familiären Umfeld in Frage gestellt, die eigenen Entscheidungen innerhalb der Partnerschaft treffen unweigerlich auf einen entsprechenden ‚Gegenpart‘. Das heißt, wir sind einerseits herausgefordert, uns selbst immer wieder neu zu entscheiden. Andererseits müssen diese Entscheidungen in Einklang mit unserer jeweiligen Lebenswelt gebracht werden, neudeutsch formuliert ‚kompatibel gemacht werden‘. Klingt anstrengend, ist es nach meiner Erfahrung auch.
Als zusätzliche Erschwernis kommt schließlich noch ein weiterer Aspekt hinzu: Nachdem der Mensch als Gewohnheits‘tier‘ beschrieben wird (wobei ich persönlich über den Vergleich mit dem Tierreich nicht wirklich glücklich bin), können jahrelange frühere Erfahrungen und Verhaltensweisen nicht einfach ausgelöscht und abgelegt werden. Wir alle sind ein Produkt unserer früheren Erfahrungen und nichts hat der Mensch im Laufe seines Lebens tatsächlich mehr lieb gewonnen als seine Gewohnheiten. Selbst wenn diese alles andere als erquicklich sind, für andere oder auch für mich selbst. Stichworte wie ‚Gesundheitsfürsorge‘ oder ‚Ernährungsgewohnheiten‘, Schlagworte wie Nikotin, Koffein, Zucker & Co. lösen vielleicht beim einen oder anderen Leser wohlbekannte und gewohnheitsmäßige Reaktionsweisen wie schlechtes Gewissen, schlichtes Verdrängen oder gar lautstarkes Wehklagen aus. Diese uns und unserer Gesundheit abträglichen Gewohnheiten sind uns zwar meist sehr gut bekannt und bewusst. Aber andere gewohnte innere Stimmen und Gedanken halten uns immer wieder davon ab, die eigentlich notwendigen Entscheidungen zu treffen und die geeigneten Schritte einzuleiten. Diesen so genannten ‚inneren Schweinehund‘ - den wohl jeder Mensch heutzutage täglich Gassi führt - haben wir zum großen Teil selbst herangezüchtet. Eben aufgrund der früher - bewusst oder unbewusst - getroffenen Entscheidungen. Sie wurden zu Gewohnheiten im Denken, Fühlen und Verhalten.
Aufgrund der jahrelangen Programmierung durch unsere Erfahrungen und Entscheidungen und ihren grundsätzlich loyalen - also ihrem jeweiligen „Herrn“ ergeben dienenden Charakter - fügt sich unsere Seele scheinbar in ihr Schicksal. Nur gelegentlich, manchmal - wenn wir uns etwas mehr Zeit nehmen, sie ein wenig baumeln zu lassen - spüren wir ein Aufflackern: Das Gefühl von Übersättigung oder des Überdrusses nach gewohnheitsmäßiger Völlerei oder anderer Formen von Maßlosigkeit. Dann taucht vielleicht sogar das berühmte schlechte Gewissen auf, verbunden mit der entschiedenen Entschlossenheit, fortan sein Leben endlich und endgültig gesundheitsbewusster gestalten zu wollen. Die Wirkung dieser Entscheidung lässt leider meist schon bei der nächsten, sich bietenden Gelegenheit schlagartig nach. Dennoch erfüllt unsere Körperseele auch weiterhin ihren Auftrag, uns zumindest seelisch halbwegs im Gleichgewicht zu halten. Dafür nimmt sie es oft genug sogar in Kauf, dass wir uns körperlichen Schaden - wie oben beschrieben - zufügen. Und so wird aus einem Akt der vorsätzlichen Körperverletzung, wie etwa der doppelten Zufuhr toxischer Substanzen beim Genuss einer Zigarre zusammen mit einem starken, nachtschwarzen Espresso, schnell ein Sinnbild für einen, in seinem seelischen Gleichgewicht schwebenden Menschen. Unser Seelenanteil, der sich um die körperliche Unversehrtheit bemüht, schreit währenddessen laut um Hilfe.
Die konservative Seite der Seele
Die Körperseele hat also zusammengefasst eine vor allen Dingen konservative, also Wert erhaltende Funktion für den Menschen. Dies bietet Vorteile im Überlebenskampf des Daseins. Die Körperseele dirigiert und orchestriert uns in der Vielfalt der täglichen Lebensanforderungen, ohne dass wir uns dessen allzu bewusst seien müssen. Sie gewährleistet dadurch eine grundlegende Stabilität im physischen und psychischen Leben. Sie bewahrt uns sozusagen vor den gröbsten Dummheiten. Vom Zusammenspiel der Organe bis zur Verarbeitung der Tagesereignisse im Schlaf und Traum - vieles von dem, was uns im Leben widerfährt, scheint mehr oder minder automatisch gesteuert zu werden. Wir müssen nicht über jeden einzelnen unserer Atemzüge nachdenken. Wir werden sozusagen beatmet. Und lassen nur ganz schwer von diesen automatischen, gewohnheitsmäßigen Prozessen ab, wie man am Beispiel des Atemreflexes unschwer nachvollziehen kann: Willentlich und dauerhaft die Atmung einzustellen ist eine der schwierigsten Übungen für den Menschen. Da kann die Entscheidung noch so ernsthaft getroffen worden sein, der lebenserhaltende und den Bestand sichernde Aspekt der Seele ist - Gott sei Dank - eine sehr schwer zu überwindende Hürde. Die Seele hat also offensichtlich einen fürsorglichen und beschützenden Aspekt, der sich teilweise ohne unser bewusstes Zutun um den Erhalt der wesentlichen Lebensabläufe kümmert. Vorausgesetzt, der Mensch hat es gelernt, auf seine inneren Stimmen zu hören und damit diese aufrechterhaltende Funktion der Seele zur Geltung kommen zu lassen.
Und doch hatte diese Art der Seelenfunktion auch einen gewissen einschränkenden Charakter. Unsere Seele würde alles dafür tun, um uns in einem sicheren und balancierten Zustand zu halten oder zu versetzen. Neues und Ungewohntes wird erst einmal kritisch beäugt und durchleuchtet. Nicht umsonst heißt es, vor nichts habe der Mensch mehr Angst als vor dem Unbekannten. Wer kennt sie nicht, die Momente, in denen man vor der Qual der Wahl steht, etwas gänzlich Neues wie beispielsweise eine andere berufliche Tätigkeit zu beginnen. Die Angst vor einem eventuellen Scheitern ist oft so groß, dass wir im Zweifelsfalle lieber in einem uns zwar unangenehmen, aber bekannten und gewohnten Zustand verharren. Die Leidensfähigkeit des Menschen scheint hierbei nahezu grenzenlos zu sein. Gerade im Berufsleben hat die Zunahme des Burnout-Syndroms beängstigende Ausmaße erreicht. Oft genug wurde dabei eine klare Entscheidung zum richtigen Zeitpunkt versäumt. Manches Mal muss man im Leben eben gewisse Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen, wenn man sich entscheidend verändern will. Oder, wie es der Hirnforscher Joe Dispenza formuliert: „In all meinen Studien, Reisen und Vorträgen über Veränderung ist es meine persönliche Erfahrung, …, dass es sich nicht gut anfühlt und unbequem ist.“ Dabei ist die Erkenntnis nicht wirklich neu, dass der Mensch an der Aufgabe beziehungsweise am Widerstand wächst und nicht durch Bequemlichkeit. Selbst das Laufen haben wir durchs Stolpern gelernt. Ein Teil unseres Seelenlebens findet diese Vorstellung von möglicher Veränderung mehr oder weniger schrecklich und ist daran interessiert, uns einem möglichst geringen Risiko auszusetzen. Im Wortsinn hat dieser Aspekt unserer Seele also einen konservativen (conservare = erhalten) Charakter.
Höhere seelische Funktionen
Wenn dem so ist, dass die Körperseele tatsächlich vor allen Dingen auf die Bestandssicherung hin ausgerichtet ist, wie können wir uns dann überhaupt seelisch weiterentwickeln? Gibt es außer der erhaltenden noch weitere Funktionen der Seele?
Schon Platon unterschied, wie zuvor erwähnt, zwischen verschiedenen Funktionen der Seele: Er spricht von der Körperseele, einer Ich-Seele sowie der so genannten Vernunftseele. Letztere befähigt uns im Zusammenwirken mit dem Geist, uns über bestimmte konservative Grenzen hinwegzusetzen und dabei auch neue Territorien zu erschließen. Dies lässt sich im bildhaften Sinne am Beispiel der Entdecker und Erforscher des Mittelalters verdeutlichen: Ganze Schiffsbesatzungen nahmen wochenlange Entbehrungen auf sich, um neue Horizonte für den Menschen zu erschließen. Dass dabei die seelischen Bedürfnisse auf der körperlich-emotionalen Ebene massiv leiden mussten, steht außer Zweifel. Die auf diese Art Wohlbefinden ausgerichtete Körperseele hatte an solchen Unternehmungen vermutlich denkbar wenig Vergnügen. Da wird der Satz von „Wer neue Kontinente entdecken will, muss den Mut haben, alle Küsten aus den Augen zu verlieren“ ganz schnell zur wahren Belastungsprobe für das Sicherheitsempfinden und lässt bei unserer Körperseele die Alarmglocken hörbar