Mir fiel auf diese Frage die Geschichte einer ehemaligen Klientin ein: Sie war eine einfache und vom katholischen Glauben geprägte ältere Dame, die stark depressive Züge hatte und immer wieder von dem Wunsch zu sterben sprach. Eines Tages ging ich mit ihr über einen Friedhof und fragte sie, ob sie an ein Leben nach dem Tode glaube. Sie antwortete: „Ja, schon. Es ist eben beim Menschen wie bei allem in der Natur - im Herbst fallen die Blätter, im Frühling wachsen neue.”
In diesen wenigen, einfachen Worten drückte sie ein für sie selbst vollkommen natürlich erscheinendes Konzept aus, über das sich Generationen von Philosophen, Theologen und Wissenschaftlern den Kopf zerbrochen haben. Das Konzept von Tod und Wiedergeburt findet man tatsächlich in allen großen Weltreligionen, wenn auch in verschiedenen Formen und Ausführungen. Ganze Heerscharen von Wissenschaftlern haben sich daran versucht, Beweise oder wenigstens Gegenbeweise für dieses Konzept zu finden. Für die ältere Dame hingegen schien es ein Teil ihrer natürlichen Überzeugung zu sein, dass es ein Leben nach dem Tode zwangsläufig geben müsse.
Mir geht es ähnlich: Ich benötige nicht den letztendlichen wissenschaftlichen Beweis für ein Phänomen, das ich mir durch eigene Erfahrungen und die Erfahrungswerte vieler anderer Menschen selbst bewiesen habe. Zwar heißt es „Wer nichts weiß, muss alles glauben”, aber manchmal sind die Erfahrungswerte des eigenen Lebens eine größere Gewissheit, als noch so viele wissenschaftliche Studien es bewirken können. Oder, um es etwas poetischer mit den Worten von Ernst Jünger auszudrücken: „Ein Garten gibt größere Gewissheit als jedes philosophische oder politische System.”
Die Suche nach der Seele
Um zur Ausgangsfrage zurückzukehren: Immer wieder wurde im Laufe der Menschheitsgeschichte der Versuch unternommen, das Wesen und den Sitz der Seele zu erforschen. Menschen wurden bei lebendigem Leibe wie auch nach ihrem Ableben untersucht, analysiert und seziert. Das Ergebnis enttäuscht: Niemand konnte bisher den definitiven Nachweis erbringen, weder für die Existenz, geschweige denn für den Sitz der Seele im menschlichen Körper. Manche hielten den Solar Plexus (das ‚Sonnengeflecht‘ des Brustkorbs) für das Zentralgestirn im menschlichen Körper und damit den wahrscheinlichsten Platz, für andere war und ist das Gehirn das eigentliche Zentrum des Menschen und die zentral darin verankerte Epiphyse (Zirbeldrüse) der Sitz der Seele. Die definitive und allgemein gültige Antwort steht demnach auch von wissenschaftlicher Seite noch aus, so dass man bei der Beantwortung der Ausgangsfrage wiederum auf Erfahrungswerte angewiesen ist und dabei in erster Linie auf die eigenen. Manchmal können natürlich auch die Erfahrungen und Erkenntnisse anderer Menschen zur Meinungsbildung hinzugezogen werden. Man muss nicht alles selbst erlebt haben, um sich ein Bild machen zu können.
Immerhin: Das Zugeständnis, dass es letztendlich so etwas wie eine Seele tatsächlich gibt - auch wenn sie uns immer wieder als nicht wirklich greifbar und daher unfassbar erscheint - darüber sind sich eigentlich fast alle einig, von der Theologie über die Philosophie bis hin zur Naturwissenschaft. Zumindest kamen viele großen Naturwissenschaftler - von Newton über Darwin bis zu Einstein - zu dem Schluss, dass sie das menschliche Leben nicht ohne eine Art von ‚Unfassbarem‘ erklären können. Heisenberg, einer der einflussreichsten Physiker der Moderne, drückte es so aus: „Der erste Schluck vom Becher der Naturwissenschaft ist Atheismus. Trinkt man jedoch weiter, so wartet am Grunde des Bechers Gott.”
Standpunkte suchen und finden
Um in dieser scheinbar eher widersprüchlichen beziehungsweise verwirrenden Welt der Seelenkunde einen eigenen Standpunkt zu entwickeln und einzunehmen, bedarf es also einiger Nachforschungen, da es das schlüssige Seelenkonzept offensichtlich so nicht gibt. Die Erfahrungen und Einsichten, die hierzu im Laufe der Menschheitsgeschichte gesammelt wurden, geben uns zwar jede Menge wertvoller Hinweise: Eine nahezu unüberschaubare Zahl von Seelen- und sonstigen Forschern hat diesen Planeten schon bevölkert und durch ihre Forschungen wichtige Erkenntnisse für das Verständnis der Zusammenhänge geliefert. Man kann also als Einzelner bei der Suche nach der Natur des Seelenlebens durchaus auf die Erfahrungswerte anderer zurückgreifen. Um die Notwendigkeit der persönlichen Beschäftigung und Auseinandersetzung mit diesen Fragen kommt man bei einem bewusst und individuell gestalteten Leben jedoch - zumindest nach meiner Erfahrung - nun einmal nicht herum. Gemäß der Sokratischen These: „Das Leben ist es nicht wert, gelebt zu werden, wenn man es nicht überprüft“ könnte man formulieren: Wenn ich mich nicht bemühe, die eigenen Antworten auf die grundsätzlichen Fragen des Lebens zu finden, werde ich letzten Endes immer auf die Antworten anderer angewiesen sein.
Gleichzeitig bietet diese Auseinandersetzung ja durchaus Möglichkeiten, das eigene (Seelen-)Leben zu bereichern. Vielleicht liegt gerade in der Herausforderung, meine eigenen Antworten finden zu müssen, die Chance zur persönlichen Entwicklung. Ohne sie wäre es unter Umständen ein Leben ‚von der Stange‘, ohne wirkliche Einzigartigkeit und Inspiration. Es ist wie im richtigen Leben: Um das nicht wirklich greifbare Gefühl der Verliebtheit oder der Liebe tatsächlich spüren und erleben zu können, genügt es eben nicht, auf die Schilderung Anderer zurückzugreifen oder mir herzerweichende Filme anzuschauen. Der Moment, in dem ich selbst verliebt bin, ist der entscheidende. Das Gefühl, das ich in diesen Momenten mit allen Sinnen spüren kann, macht letztlich den Unterschied aus.
Andererseits führt der Versuch, die Dinge in ihrer Ganzheit zu erfassen und zu verstehen, nicht immer und zwangsläufig zur wahren Erleuchtung oder zu größerer Lebenszufriedenheit. Manchmal ist es wahrscheinlich sogar besser und gesünder, nicht zu viel über alles nachzudenken und alles verstehen zu wollen. Manch einer ist schon verzweifelt bei dem Versuch, zu ergründen, was den Menschen oder gar die ‚Welt im Innersten zusammenhält‘. Dennoch ist es meine feste Überzeugung, dass die Intensität der Suche und der Grad der Bewusstheit das Zünglein an der Waage ist, wenn es darum geht, die Fülle des Lebens wahrzunehmen und sie im eigenen Leben zur Blüte zu entfalten. Genau hierzu möchte dieses Buch einen Beitrag leisten ohne gleichzeitig den Anspruch zu erheben, der Weisheit letzter Schluss zu bieten.
Seele als unergründliches Wesen
Die Sehnsucht nach der letztendlichen Wahrheit sowohl über die Seele, wie auch des Lebens an sich, ist in diesem irdischen Leben vielleicht nicht wirklich zu stillen. So wie die Seele als Wesen unergründlich erscheint, so ist auch der Zugang über die Psychologie als der ‚Lehre über und von der Seele‘ manchem Zeitgenossen verwehrt, weil so gar nichts wirklich klar und eindeutig zu sein scheint. Im Gegenteil: Alles, was der Mensch so denkt, sagt und tut, erscheint als mindestens zweideutig, wenn nicht gar mehrdeutig. Mit einer eindeutigen und klaren Aussage über die Natur der Seele und ihrer Wirkungsmechanismen kann man auch seitens dieser Seelenspezialisten scheinbar nicht rechnen.
Dies mag einerseits durchaus auch an den Spezialisten selbst liegen, hat aber wohl in erster Linie mit dem oben beschriebenen Phänomen des ‚Nicht-Greifbaren‘ und Unergründlichen der Seele selbst zu tun. Schon der Ursprung des Wortes ‚Seele‘ deutet auf diese Unergründlichkeit hin: Das aus dem Germanischen sele oder sela stammende Wort leitet sich ab von dem Wort See, da die Germanen glaubten, dass die Seelen der Ungeborenen und der Toten in den Tiefen des Wassers, bzw. der Seen wohnen.
Wenn ich daher so etwas scheinbar Abstraktes wie die menschliche Seele nicht definitiv greifen kann, liegt es nahe, dass ich mich mit dem Begreifen des dazugehörigen Seelenlebens ähnlich schwer tue. Es geht eben nicht wie beispielsweise bei der Technik und Mechanik um physisch vorhandene Dinge und ihre im Zusammenspiel messbaren Kräfte. Es geht um immaterielle (‚ungesehene‘) Vorgänge im und um den Menschen herum, die nichtsdestoweniger real existent sind und das Leben des Einzelnen massiv beeinflussen.
Viele Psychologen und große Teile der wissenschaftlichen Psychologie haben während der letzten Jahrzehnte den philosophischen Teil der Seelenkunde ausgeklammert. Sie beschäftigen sich stattdessen lieber mit den nachweisbaren Auswirkungen des Seelenlebens auf der Verhaltens- und Handlungsebene. Dies ist ein durchaus legitimer Versuch, die Kenntnisse der Psychologie auch für den Einzelnen nachvollziehbar und anwendbar zu machen - und dies ohne die großen