Konstantinopel von unten und andere Schrecklichkeiten. Jürgen Rath. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jürgen Rath
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783937881737
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bist du in Ordnung?«, fragte Tiarks besorgt vom Ruder her.

      »Ja, ja, alles in Ordnung. Wollte nur mal sehen, wie kalt das Wasser ist.« Behrens versuchte, den Vorfall herunterzuspielen, doch sein Südwester war in der See verloren gegangen und die Leute im Boot sahen, dass er vor Kälte zitterte.

      Inzwischen hatte der Schiffer der Tjalk die Trossen an Bord befestigt. Das Kriegsschiff zog an, die Leinen streckten sich – da zerriss die erste Trosse. Kurz darauf riss die zweite den Poller mitsamt einem Teil des Decks aus dem Segler. Damit war die Verbindung abgerissen und die Tjalk trieb weiter auf die Sandbank zu.

      »Wir fahren zurück und holen noch eine Leine«, rief Tiarks und warf das Ruder herum.

      Die Männer hatten die halbe Strecke hinter sich gebracht, da rauschte es hinter ihnen. Es war die Kurfürst Friedrich Wilhelm, die mit hoher Geschwindigkeit auf die Jade hinausdampfte. Die Männer im Boot hielten inne, sie glaubten, ihren Augen nicht trauen zu können. Wieso fuhr das Kriegsschiff jetzt weg, wo sie doch mitten in der Bergung waren? Als die Kommandobrücke auf der Höhe der Rettungsmänner war, nahm der Kapitän der Kurfürst Friedrich Wilhelm die Flüstertüte an den Mund. »Wir können euch nicht mehr helfen«, rief er von oben herab, »wir hatten eine Grundberührung. Wir müssen in tieferes Wasser.«

      Die Rettungsmänner hingen über den Riemen und blickten ihren Vormann ratlos an. Tiarks reckte sich hoch, schaute zu der treibenden Tjalk, dann zu der Sandbank, die schon recht nahe war.

      »Das Schiff ist verloren«, sagte er, »lasst uns wenigstens die Leute retten.«

      Wieder legten sich die Männer ins Zeug, wieder pullten sie gegen Wind und Wellen an.

      Endlich hatten sie die Tjalk erreicht. Dort schien die Besatzung ihre aussichtslose Lage erkannt zu haben. Als das Rettungsboot an dem Segler entlangschrammte, sprang die Frau des Schiffers ins Boot. Im Arm barg sie ein Bündel, es war ihr drei Monate altes Kind. Kurz darauf folgten die beiden Matrosen und schließlich der Schiffer.

      Wieder stemmten sich die Männer gegen die Fußhölzer, wieder zogen sie die Riemen durch. Nur Heinrich Behrens schien nicht mehr die nötige Kraft aufzubringen, seine Bewegungen waren merkwürdig schlapp.

      »Pullt!«, rief Tiarks vom Ruder her. »Pullt, was ihr könnt! Wir müssen vor Einbruch der Dunkelheit an der Station sein. Wir müssen die Leute wärmen, sonst sterben sie uns weg.«

      Die Rettungsmänner gaben ihr Letztes, doch gegen den Sturm und die Wellen kamen sie kaum vorwärts, da sie jetzt auch noch gegen den Ebbstrom ankämpfen mussten. Und unter Segel konnten sie auch nicht gehen, da der Wind von der falschen Seite wehte.

      »Vormann!«, schrie plötzlich einer der Männer von vorne.

      »Was ist los bei euch, Hauke?«,

      »Ich habe einen Schatten gesehen. An Steuerbord.«

      Tiarks legte das Ruder herum, kurz darauf kam ein kleines Boot in Sicht, halb mit Wasser gefüllt, in dem zwei Männer nur noch müde Ruderbewegungen machten. Mit vereinten Kräften zog man sie ins Rettungsboot. Wie es sich herausstellte, war es die Besatzung der gerade gesunkenen Tjalk Ettina, die auf der Jade leckgeschlagen war.

      Die Rettungsbemühungen hatten den halben Tag gedauert, inzwischen war es dunkle Nacht geworden. Wegen des orkanartigen Sturmes konnte das Rettungsboot immer noch keine Segel führen, es musste weiterhin gerudert werden. Vormann Tiarks blickte über sein Boot nach vorne. Schemenhaft sah er seine Männer, wie sie die Hände um die Riemen krallten, wie sie verbissen ruderten. Zwischen ihnen kauerten die Schiffbrüchigen, frierend, mit unnatürlich weißen Gesichtern. Die Frau hielt den Säugling unter dem Mantel geborgen. Wir haben sie zwar gerettet, dachte Tiarks, doch noch sind sie nicht in Sicherheit.

      Wieder richtete er seinen Blick auf die See. Die Wellen rollten heran, trafen auf das Boot, brachen sich am Bug, bäumten sich auf und überschütteten die Insassen mit Gischt. In solchen Augenblicken schien das Boot stillzustehen, ja sogar zurückzutreiben, trotz der Anstrengungen der Ruderer.

      Immer noch orgelte der Orkan in unverminderter Stärke, die See brauste, es war dunkel und eisig kalt. Hoffentlich kommen wir rechtzeitig zur Station zurück, bevor die Unterkühlung einsetzt, dachte Tiarks. Er blickte auf den Kompass, jetzt mit besorgter Miene. Der richtige Kurs lag an, zusätzlich hatte er die Abtrift durch den Ebbstrom eingerechnet und auch den Wind berücksichtigt, doch in einer solch mörderischen Nacht war auf Erfahrungswerte keinen Verlass. Wenn die Flut nicht rechtzeitig einsetzt, dachte er, und wir immer weiter in die Nordsee hinaustreiben, dann könnte es gefährlich für uns alle werden. Lebensgefährlich.

      Um 7.00 Uhr abends hörten die Rettungsmänner mit einem Mal ein bedrohliches Rumpeln und Poltern vor sich, das schnell näher kam.

      »Da ist eine Brandung«, schrie einer der Bootsmänner, »direkt vor uns!«

      »Wo sind wir?«, rief ein anderer erschrocken.

      »Ruhe, Männer«, sagte Tiarks. »Das Festland kann es nicht sein. Dort hätten wir nicht diese Brandung. Wahrscheinlich ist es die Minsener Oldeoog-Platte.«1

      Während man im Boot noch beriet, ob es möglich war, doch noch gegen den Ebbstrom auf das Festland zuzurudern, oder ob man die Landung auf der Sandbank versuchen sollte, waren sie plötzlich mitten in der Brandung. Kurz hintereinander schlugen drei Sturzseen über das Boot hinweg und füllten es bis zum Rand. Jetzt saßen die Leute im eiskalten Wasser. Das Boot schlingerte und rollte im Chaos der Brandung, alle mussten sich eisern an den Rettungsleinen festhalten, um nicht hinausgeschleudert zu werden.

      Über den weiteren Verlauf der Rettungsaktion schrieb Vormann Tiarks in einem späteren Bericht:

       »Unsere Versuche, das Wasser mit unseren Südwestern auszuschöpfen, waren vergeblich, da die Seen jetzt noch glatt über das Boot hinweggingen. Mein Bemühen war unter diesen Umständen darauf gerichtet, alle Insassen in Bewegung zu halten, damit sie nicht erstarrten. Jedoch, nicht lange danach, starb das Kind und dann die Frau, die ich vergeblich durch Einflößen von Kognak und Hoffmannstropfen aus der Bootsapotheke dem Leben zu erhalten versucht hatte. Nach und nach starben auch die übrigen Geretteten bis auf einen Mann, den Matrosen Smit von der holländischen Tjalk.«

      Schließlich wurde das Boot von einer mächtigen Welle auf die Oldeoog-Platte gesetzt. Es krachte und splitterte, die Lebenden und die Toten fanden sich im Fußraum des Rettungsboots wieder. Mit einem Mal war Ruhe, gespenstische Ruhe. Das Boot lag ganz still, nur weiter hinten tobte die Brandung gegen die Sandbank und über den Rettungsmännern orgelte nach wie vor der Sturm.

      Die erschöpften Ruderer hatten nicht mehr die Kraft, aus dem hoch am Strand liegenden Boot zu steigen, sie ließen sich von oben herab in den Sand fallen. Nur Bootsmann Behrens blieb sitzen. Er stierte mit roten Augen vor sich hin, das Gesicht war seltsam dunkel verfärbt, zwei seiner Kollegen mussten ihn auf den Strand herunterlassen. Dabei geriet einer von ihnen mit dem Bein unter das Boot, konnte jedoch glücklicherweise wieder freikommen, nachdem man einen Tunnel gegraben hatte.

      Für die toten Schiffbrüchigen konnten die Rettungsmänner nichts mehr tun, jetzt galt es, das eigene Leben zu retten. Sie ließen die Leichen im Rettungsboot zurück und schleppten sich über den Sand. Der Sturm brauste immer noch, die Luft war mit Gischt angefüllt, doch zwischen den heranstürmenden Wolken fiel zeitweise etwas Mondlicht auf die Sandbank.

      »Wenn die Flut kommt, ist es aus mit uns«, sagte einer der Bootsleute. Die beiden Männer, die Heinrich Behrens untergehakt hatten und ihn mit sich schleiften, nickten zustimmend.

      Vormann Tiarks zeigte nach rechts. »Dort drüben müssen wir hin!«

      Er war sich nicht sicher, ob ihn alle gehört hatten, denn einige der Männer waren schon weit zurückgefallen, doch das ließ sich jetzt nicht mehr ändern.

      In der Ferne sahen sie die Bake, eine hohe Holzkonstruktion als Warnung für die Schifffahrt vor den gefährlichen Sänden. Der Anblick des hölzernen Schutzraums in Obergeschoss der Bake gab den Männern noch einmal Kraft. Dort waren sie vor dem eisigen Wind geschützt, es