Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen. Hans Peter Klein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Peter Klein
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Социальная психология
Год издания: 0
isbn: 9783866744974
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der Neukonzeption der Zentralabituraufgaben hat es in nahezu allen Bundesländern erhebliche Abweichungen von den bisherigen Aufgabentypen gegeben. Dazu reicht bereits der Blick eines Laien auf die neuen Formate. Lange Textpassagen mit vielen Grafiken und Diagrammen lassen die Aufgaben auf den ersten Blick als sehr anspruchsvoll erscheinen und unterscheiden sich von den Abiturarbeiten vor der Einführung des Zentralabiturs mit ihren relativ knapp bemessenen Materialien und Aufgabenstellungen deutlich. Entsprechend müssen die Schüler gerade zu Beginn der Bearbeitung einen nicht unerheblichen Zeitaufwand dafür ansetzen, die vielfältigen und teilweise ausführlichen Texte in den Informationsmaterialien erst einmal zu sichten. Dafür wird ihnen eine entsprechend lange Vorbereitungszeit zugebilligt, bevor die eigentliche Bearbeitung beginnen kann. Auch die Aufgabenstellungen zu den Materialien sind im Gegensatz zu den relativ kurzen und konkreten Fragen der früheren Arbeiten in der Regel sehr allgemein gehalten.

      Zu Anfang traten sowohl bei Lehrern als auch bei Schülern Verständnisschwierigkeiten auf, worin denn nun die eigentliche Leistung bestehe, um derartige Aufgaben erfolgreich lösen zu können. Die den Lehrern zur Korrektur der Arbeiten überlassenen Erwartungshorizonte in Form von Lehrerhandreichungen, nach denen die Klausuren zu korrigieren sind, zerstreuten dann aber die anfänglichen Zweifel sehr schnell. Nach den ersten Durchgängen des Zentralabiturs, beispielsweise in Nordrhein-Westfalen ab 2007, hörte man viele Lehrer klagen, die Arbeiten seien fachlich teilweise »unterirdisch«, die Schüler müssten in erster Linie Lesekompetenz nachweisen, denn viele Antworten seien bereits im Text enthalten. Die früher vom Schüler in die Abiturprüfung einzubringenden und nachzuweisenden fachlichen Grundlagen seien weitgehend aus den neuen Aufgabenformaten verschwunden. Die Lösung vieler solcher Aufgaben sei schon Neuntklässlern möglich, die verstehend lesen könnten.

      So kam man auf die Idee, die Nagelprobe durchzuführen und eine neunte Klasse eine derartige Zentralabiturarbeit schreiben zu lassen. Obwohl seitens des Kultusministeriums für derartige Untersuchungen keine Genehmigung zu erhalten ist – es sei denn, man spricht die Vorgehensweise und besonders die Handhabung möglicher Ergebnisse vorher ab –, fanden sich dennoch Lehrer bereit, ein solches Experiment an einem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen unter Berücksichtigung der formalen Vorschriften durchzuführen. Auf den ersten Blick vermessen, fiel die Auswahl im Fach Biologie von 2009. Das Thema und die fachlichen Grundlagen waren den Schülern nicht bekannt. Dennoch gaben alle Schüler umfangreich beschriebene Klausurbögen ab, so dass davon auszugehen war, dass die Schüler die Aufgabenstellung verstanden und auch ernst genommen hatten. Das Ergebnis übertraf sogar die Erwartungen aller an dem Versuch Beteiligten. Von 27 Schülern kamen nur vier über die Note »Mangelhaft« nicht hinaus, 14 Schüler erreichten die Notenstufe »Ausreichend«, fünf Schüler landeten im Dreierbereich, drei Schüler schafften gar ein »Gut«, und ein Schüler erhielt die Note »Sehr gut«.2

      Wie war das möglich? Um nun besser nachvollziehen und bewerten zu können, was im Zentralabitur in vielen Fächern in immer mehr Bundesländern zu leisten ist, versuchen wir im folgenden eine Lösung für die erste von vier Teilaufgaben für diese den Schülern vorgelegte Zentralabiturarbeit gemeinsam zu erarbeiten. Sie stammt aus dem Teilgebiet der Populationsökologie, einer Disziplin, die das Verhalten von Populationen in der freien Natur und ihre wechselseitigen Beziehungen untersucht. Populationsökologie scheint zudem eines der Lieblingsthemenbereiche im Zentralabitur zu sein, kommt es doch bis heute als durchgehendes Thema alljährlich vor und wird von den Schülern mit Abstand am meisten gewählt. Konkret geht es in der Aufgabe um die uns nun bekannten Streifenhörnchen. Das Thema der Aufgabe lautet: Wie wirken sich Mastjahre und Parasiten auf Nagetierpopulationen aus? Dazu erhält der Schüler unter der Überschrift Streifenhörnchen-Populationen und Zecken für die Teilaufgabe 1 folgendes Informationsmaterial und die nachfolgende Grafik:

       In den Laubwäldern Nordamerikas leben Streifenhörnchen (Tamias striatus). Sie ernähren sich vor allem von Samen, insbesondere von Eicheln. Wenn die Eichen sehr viele Eicheln haben, spricht man von »Mastjahren«. In solchen Mastjahren ist die Überlebensrate von kleinen Nagetieren im Winter allgemein höher. Streifenhörnchen sind die bevorzugten Wirte von parasitischen, blutsaugenden Zecken (Ixodes scapularis). Die Zecken saugen in ihrem Leben dreimal Blut: erst als Larve, dann nach der Häutung als Nymphe und nach einer weiteren Häutung schließlich als erwachsenes Tier, das ein größeres Säugetier als Wirt sucht. Die Entwicklung dauert mehr als ein Jahr. Anschließend erfolgen Paarung und Eiablage.

       Im amerikanischen Bundesstaat New York wurden in einem Langzeitprojekt über acht Jahre in einem Laubwald die Eichelmenge, die Zahl der Streifenhörnchen und die Zahl der Zeckennymphen untersucht. Abbildung 1 zeigt das Ergebnis.

      Abbildung 1: Zeitlicher Verlauf der Eichelmenge (Eicheln auf einem Quadratmeter), der Populationsdichte der Streifenhörnchen (Anzahl Individuen pro 2,25-Hektar-Fläche) und Zeckennymphen (Anzahl Individuen pro 100 Quadratmeter) im Bundesstaat New York, USA

      Die vom Schüler zu bearbeitende Aufgabe 1 lautet nun: Beschreiben Sie zusammenfassend die Veränderungen der Eichelmenge, Streifenhörnchen-Population und Zeckennymphendichte, und erklären Sie die möglichen Ursachen der Schwankungen (Material A).3

      Für die erfolgreiche Lösung dieser Aufgabe ist es besonders wichtig, dass der Leser auf keinen Fall versuchen sollte, sich an irgendwelche biologischen Fakten aus seiner Schulzeit zu erinnern, die vielleicht noch rudimentär vorhanden sind. Das wäre kontraproduktiv und würde eine erfolgversprechende Lösung massiv behindern. Wir konzentrieren uns ausschließlich auf den Text, die Aufgabenstellung und die Grafik. Entsprechend der Aufgabenstellung wird vom Schüler zuerst einmal die Beschreibung der Veränderung der Eichelmenge, der Streifenhörnchenpopulation und der Zeckennymphendichte erwartet. Schauen wir uns dazu die Kurven an, können wir, ohne viel nachzudenken, diese ganz einfach wie folgt beschreiben: Alle drei Kurven schwanken in dem angegebenen Zeitraum von 1993 bis 2002 mehr oder weniger stark, wobei die Kurve der Eicheln 1994, 1998 und 2001, die Kurve der Streifenhörnchen 1995 und 1999 und die Kurve der Zeckennymphen die höchsten Werte 1996 und 2000 erreicht. Selbstverständlich kann man das auch anders formulieren, beispielsweise dass die Kurven der Eicheln, der Streifenhörnchen und der Zeckennymphen hinauf und wieder hinunter gehen und in den entsprechenden Jahren Höhepunkte oder Tiefpunkte aufweisen. Dies reicht erst einmal vollständig aus, da der verwendete Operator Beschreiben noch keine Erklärung oder Analyse der Kurvenverläufe verlangt. Operatoren wie beschreiben, analysieren diskutieren, bewerten, erklären u. a. werden in der Einheitlichen Prüfungsanforderung in der Abiturprüfung (EPA) den drei Anforderungsbereichen I–III je nach ihrer Wertigkeit zugeordnet. Schauen wir uns den Erwartungshorizont an, nach dem die Lehrer die Arbeiten zu korrigieren haben, so finden wir dort folgende Angaben: Der Prüfling beschreibt zusammenfassend die Kurvenverläufe in Abb. 1, dass z. B. die Eichelmenge stark schwankt und in den Jahren 1994, 1998 und 2001 Maxima zu erkennen sind, die Zahl der Streifenhörnchen ebenfalls stark schwankt und die Maxima in den Jahren 1995 und 1999 liegen, die Zahl der Zeckennymphen gleichfalls stark schwankt und die Maxima in den Jahren 1996 und 2000 liegen.4 Hier haben wir also ohne viel Aufwand einen Volltreffer gelandet und verbuchen die ersten sechs Punkte dieser Teilaufgabe auf der Habenseite. Verwundert sind wir schon ein wenig, da der Operator Beschreiben entsprechend der EPA definiert, dass der Schüler Strukturen, Sachverhalte oder Zusammenhänge strukturiert und fachsprachlich richtig mit eigenen Worten wiedergeben kann.5 Welche Strukturen, Sachverhalte oder sogar Zusammenhänge hier wiederzugeben sind, bleibt wohl allein den Verantwortlichen für diese Aufgabe vorbehalten.

      Nun werten wir diese Teilfrage als schülerfreundlichen Einstieg in die Zentralabiturarbeit. Schließlich sind die Schüler am Tag des Zentralabiturs auch mit einer gewissen Nervosität behaftet, und ein einfacher Einstieg in ein Thema erleichtert sicherlich die Bearbeitung der nachfolgenden Aufgabenteile mit deutlich höher ausgewiesenem Schwierigkeitsgrad. Im zweiten Teil der Aufgabe verspricht schon die Benutzung des Operators Erklären einen deutlich höheren Anforderungsbereich. Der Schüler soll einen Sachverhalt auf Regeln und Gesetzmäßigkeiten zurückführen, sowie ihn nachvollziehbar und verständlich machen, so die Definition des Operators in der EPA.6 Wie gehen wir nun vor? Wir müssen herausfinden,