Zunächst einmal unterstützten sie Brentano und von Arnim bei der Veröffentlichung der Folgebände zu Des Knaben Wunderhorn, einer Sammlung von Volksliedern, die die Schriftsteller einige Jahre vorher begonnen hatten. Und sie kamen auf den Geschmack, das Studium in Marburg war beendet und die beiden Brüder waren wieder in Kassel, wo sie Jahre zuvor schon das Gymnasium besucht hatten. Weihnachten 1812 kam der erste Band der ersten Ausgabe der Kinder-und Hausmärchen (KHM) mit DER FROSCHKÖNIG ODER DER EISERNE HEINRICH als Nummer eins, 1815 folgte der zweite Band.
Leider verkaufte sich das Werk nicht unbedingt gut, die (fast) naturbelassenen Texte und der wissenschaftlich anmutende Anmerkungsapparat kamen beim Publikum nicht an. Zu sehr ins Detail gehen können wir an dieser Stelle nicht, was die Versionsgeschichte der Kinder- und Hausmärchen betrifft, die von einer handschriftlichen Urfassung von 1810 bis zur Ausgabe letzter Hand von 1857 reicht. Und natürlich bis heute unzählige Neuauflagen, Übersetzungen und Bearbeitungen umfasst.
Festhalten müssen wir allerdings, dass Wilhelm Grimm bei der Veröffentlichung der zweiten Auflage von 1819 das fortsetzt, was er schon beim zweiten Band vorsichtig begonnen hat, nämlich das sprachliche und inhaltliche Umgestalten und redigieren der „Originalversionen“. Er nutzte dazu die Abwesenheit seines strengen Bruders Jacob aus. Den verschlug es in dieser Zeit, dank des Sieges über Napoleon in der Völkerschlacht von Leipzig 1813 beruflich erst nach Paris und dann zum Wiener Kongress. Erst im Dezember 1815 hatten Kassel und Bruder Wilhelm ihn wieder.
Natürlich fiel es Jacob auf, was Wilhelm klammheimlich mit den Texten und mit dem Anmerkungsapparat getrieben hatte und entsprechend ungehalten war er dann auch. Wilhelm war auf dem Weg, eine eigene „Märchensprache“ zu entwickeln, setzte die schriftliche Version manchmal aus verschiedenen Fassungen zusammen und entwickelte sogar zum Teil aus einzelnen Motiven neue Märchen. All das widersprach nach Jacobs Meinung dem Gedanken der Erhaltung der Volkspoesie, in die man nicht mit Kunstfertigkeit hineinpfuschen sollte. Da sich die beiden nicht einig werden konnten, war Wilhelm von da an für die KHM zuständig und Jacob zog sich aus dem Projekt zurück.
Statt einen geplanten dritten Band zu veröffentlichen, fügte Wilhelm die Neuzugänge in die zweite Auflage der ersten beiden Bände ein und veröffentlichte den Anmerkungsapparat nicht mehr zusammen mit der Sammlung, sondern als einzelnes Werk. Er hatte schon lange eher das jüngere Publikum, sprich Kinder, im Sinn gehabt und legte auch dementsprechend Hand an die Texte, die somit (leicht) entschärft wurden. Wie sich das auf die verschiedenen Fassungen der Ausgaben auswirkte, werden wir an später noch an einzelnen Beispielen sehen.
Auch was die Quellen der Brüder Grimm und das Sammeln der Märchen selbst betrifft, gibt es viele Missverständnisse. Die Vorstellungen davon, wie die Entstehung der KHM von Statten ging reichen von „die Brüder Grimm haben die Märchen geschrieben“ bis „Jacob und Wilhelm sind mit Papier und Feder von Bauernhof zu Bauernhof gewandert und haben das einfache Volk befragt“. Und wie so oft liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen.
Die Treue zum Mündlichen haben wir ja gerade zerpflückt und auch was die „Quellen aus dem Volk“ angeht, muss man relativieren. Zunächst einmal haben einige der Märchenerzähler hugenottische Wurzeln und die von ihnen erzählten Geschichten damit einen französischen Einschlag. Dorothea Viehmann, die von den Grimms als Bäuerin aus dem Dorf Zwehrn vorgestellt wird, ist weder Bäuerin (vielmehr Frau eines Schneidermeisters), noch seit Generationen bei Kassel beheimatet, denn sie hat hugenottische Vorfahren. Ebenso wie Marie und Jeanette Hassepflug, die in Kassel als Märchenquelle dienten. Die Nähe der Grimmschen Märchen zu den französischen Feenmärchen ist damit nicht von der Hand zu weisen. Und tatsächlich finden sich einige der Märchen, die der Franzose Charles Perrault bereits Ende des 17. Jahrhunderts gesammelt und (stark bearbeitet, wir kennen das bereits) veröffentlicht hat, in den KHM wieder. Doch auch dazu später mehr.
Auch die Damen der Kasseler Apothekersfamilie Wild hatten französische Wurzeln und auch hier kann man nicht vom „einfachen Volk“ sprechen, sondern eher vom Bürgertum. Eine der Töchter der Familie, Henriette Dorothea, wurde 1825 Wilhelm Grimms Frau.
Mit Friederike Mannel haben wir dann noch eine Pfarrertochter, mit Ferdinand Siebert einen Theologen und mit der Familie von Haxthausen sowie der Baroness Jenny von Droste-Hülshoff sogar den Adel unter den Märchenlieferanten. Bauernvolk sucht man also vergebens.
Geografisch stammen die Märchen – sieht man vom französischen Hintergrund ab, also aus verschiedenen Hessischen Gegenden, aus dem Weserbergland und dem Münsterland.
Was die hier zu Grunde gelegte Ausgabe betrifft, so nutzen wir zumeist die 7. Auflage von 1857, welche zugleich die letzte ist, an der die Grimms selbst maßgeblich beteiligt waren. Ist ein Märchen in dieser Ausgabe nicht mehr enthalten, nehmen wir die letzte, in der es auftaucht. Ab und zu ist auch ein Vergleich mit der sogenannten Urfassung angebracht, wenn ein Märchen unter denen gewesen ist, die Jacob Grimm 1810 an Brentano schickte, um den Grundstein für die Sammlung zu legen. Brentano bestätigte zwar den Erhalt der kleinen Zusammenstellung, aber mehr passierte auch nicht damit. Die Texte waren lange Zeit verschollen und wurden erst nach dem ersten Weltkrieg im Trappistenkloster Ölenberg im Elsaß wiederentdeckt. Daher spricht man auch mitunter von der „Ölenberger Fassung“.
Mitnichten geht es hinter den Kulissen der KHM also derart romantischvolksnah zu, wie die Brüder im Vorwort zu ihrem Werk die Szenerie ausmalen. Die Verklärung des Stoffes, der ein wenig oder auch ein wenig mehr nachgeholfen wurde, ist inzwischen ebenso Teil des „Mythos Grimm“, wie die Märchen selbst. Den Schleier dieser Verklärung werden wir in den folgenden Kapitel vorsichtig lüften, um auf den Grund des Märchenbrunnens zu blicken.
Einführung
von Sebastian Bartoschek
Guten Tag, meine Damen, meine Herren, liebe schlafende Königstöchter und in Tiere verwandelte Hofknechte. Auch von meiner Seite heiße ich Sie recht herzlich willkommen in diesem Buch. Es freut mich immer einen Leser begrüßen zu können, der sich die Mühe macht, auch die Einleitungen zu lesen. Ich selbst gehöre selten dazu, sondern starte meist da, wo das Buch „richtig“ los geht. Deswegen sollte ich Ihnen jetzt hier etwas bieten, dass Ihnen einen Wissensvorsprung vor den Lesern gibt, die so handeln, wie ich es normalerweise tun würde.
Ich verrate Ihnen ein Geheimnis. (Sie sollten sich den folgenden Satz geflüstert in einer nur von Mondlicht erhellten Hinterhofstrasse vorstellen, in einer Stadt, über der unheilvoll die Turmuhr des Schlosses trohnt.) Ich habe keine Ahnung von Märchen – und habe auch nichts für dieses Buch recherchiert.
Was Sie im folgenden erleben werden, sind daher Ausführungen, die es im Ausmaß der Gelehrsamkeit nicht mit meiner Mitautorin aufnehmen können – die ja immerhin Magistra der Europäischen Ethnologie, sprich Völkerkunde, ist, und deswegen nicht nur den Hintergrund jedes Märchens recherchiert hat, sondern genau dies Ihnen auch nahe bringen will und wird.
Ich hingegen bin Psychologe.
(Donnergrollen in der Ferne; erste Kunstpause)
Ich kenne den Menschen, zumindest in großen Teilen, und verdiene meine Wohnngsmiete damit, Menschen zu erklären, was sie wie ändern sollten, und woran sie das erkennen können.
Andere Psychologen, vor allem solche, die einer eher überholten Tradition, der so genannten Psychoanalyse, anhingen, haben diesen