In gewisser Weise haben wir hier einen Streit, den wir öfter in der Psychologie finden, nämlich ob Anlage oder Umwelt das Wesen eines Menschen bestimmt. Was aber hat das mit dem Märchen „Brüderchen und Schwesterchen“ zu tun? Vielleicht ja nichts, ich glaube aber schon einiges. (Sonst hätte ich Ihnen die ersten beiden Absätze ja wohl kaum zugemutet.)
Ausgangspunkt meiner Überlegungen war: was ist denn bitte die Stiefmutter für eine doofe Person? Dann fiel mir auf, dass wir über den Vater des Geschwisterpaares gar nichts erfahren. Wirklich nichts. Wir erfahren lediglich, dass die Stiefmutter eine eigene Tochter hatte, die „hässlich war wie die Nacht, und nur ein Auge“ hatte. Nun, Schönheit liegt sicherlich im Auge3 des Betrachters, und davon hat die eben jene Tochter ja nur eines4, wir wissen auch nicht, was mit dem anderen Auge der Tochter passiert ist. Allerdings wirkt es aus unserem heutigen Blickwinkel5 als genetische Komponente, die die Tochter von ihrer bösen Mutter erhalten hat. Also: kein Wort zum Vater. Interessant ist auch, dass die Motivation der Stiefmutter eine andere ist, als bei HÄNSEL UND GRETHEL. Dort werden zwei Kinder ausgesetzt, weil das Essen nicht für alle reichte, auch hier haben wir es mit einer Stiefmutter zu tun6. Während dort jedoch die Stiefmutter und der Vater selbst mit ihrer Entscheidung zu kämpfen haben, liegt der Fall bei BRÜDERCHEN UND SCHWESTERCHEN ganz anders. Wir erfahren, dass die Stiefmutter eine böse Hexe ist, die nachhaltig schaden will – aus „Neid und Mißgunst“. Sie scheint also nicht anders zu können, als böse zu handeln, ein Charakterzug, den wir bei Hexen im Märchen fast ausschließlich antreffen.
Die Aussage ist klar: es gibt Menschen, die sind einfach nur schlecht. Und auch ihre Nachkommenschaft ist zwangsläufig schlecht. Sie können einfach nicht aus „ihrer Haut“, oder wie wir heute sagen würden: sie tragen stabile Persönlichkeitseigenschaften in sich, die sie vielleicht ein kleines Stückchen, aber nie grundlegend ändern können. Solchen Straftätern attestieren wir heute „schädliche Neigungen“, sie gelten vielen als untherapierbar und werden immer noch „in Sicherungsverwahrung“ gebracht. Medien sprechen von ihnen als „Bestien“, Politiker fordern immer wieder drakonische Strafen für sie. Insofern dürfte das Ende des Märchens manch ein konservatives Politikerherz höher schlagen lassen: die beiden Frauen, Stiefmutter und Tochter, entmenschlicht als Hexe und deren Nachkommenschaft betrachtet werden getötet, aber auch nicht „einfach so“. Vielmehr bemüht sich der Geschichtenerzähler zu betonen, dass „beide vor Gericht“ geführt wurden. Scheinbar war es Menschen stets wichtig zu betonen, wo eigentlich der Unterschied zwischen einem Mord aus niederen Beweggründen und der Tötung von Staatswegen liegt.
Dass das Märchen generell die Idee einer gegebenen Persönlichkeitsausprägung vertritt, sieht man auch an einer anderen Stelle: die Jagd auf das Reh/ den Bruder. Im ersten Moment fragte ich mich, wieso denn bitte der Bruder/ das Reh nicht einfach seine Hufe still hält und gefälligst im Haus bleibt, wenn die Jagd läuft. Schließlich wissen er und die Schwester doch um die Gefahr. Die Antwort: weil es in seiner Natur liegt. Das Reh scheint das unbändige Bedürfnis zu haben an der Jagd teilzunehmen, auch wenn es seinen Tod bedeuten kann, sonst stürb es „vor Betrübnis“.
Und schließlich haben wir auch zu Beginn des Märchens erlebt, dass es angeborene Bedürfnisse zu geben scheint, die man nicht einfach überwinden kann. So schafft es das Brüderchen zwar zweimal auf das Trinken zu verzichten, doch muss einfach beim dritten Mal trinken7. Kleines Detail am Rande: das Zurückstellen der eigenen Bedürfnisse glückt nur dem Mann nicht, implizit wird hier die Werthaltung vermittelt, dass eben auch dies gegen die Natur des Mannes wäre.
Anders als wir mittlerweile aus den Versuchen von Milgram, Zimbardo und Co wissen, lehrt dieses Märchen also nur den Ansatz, dass es das Böse gibt, weil es böse Menschen gibt und diese im Zweifel eben selbst keine Menschen sind, sondern bspw. Hexen. Der Vorteil dieser Sichtweise ist der, dass man eine einfache Trennlinie dafür hat, wer gut ist und wer böse. Gut ist der, der Gutes tut. Dieses simple Credo wird dann noch in einen religiösen Rahmen, wenn auch nur sehr halbherzig, eingebunden, und schließlich werden sowohl Brüderchen als auch Schwesterchen von ihrem Leid erlöst.
3. Rapunzel
Rapunzel ward das schönste Kind unter der Sonne. Als es zwölf Jahre alt war, schloß es die Zauberin in einen Thurm, der in einem Walde lag, und weder Treppe noch Thüre hatte, nur ganz oben war ein kleines Fensterchen. Wenn die Zauberin hinein wollte, so stellte sie sich unten hin, und rief
„Rapunzel,Rapunzel,
laß mir dein Haar herunter.“
Rapunzel hatte lange prächtige Haare, fein wie gesponnen Gold. Wenn sie nun die Stimme der Zauberin vernahm, so band sie ihre Zöpfe los, wickelte sie oben um einen Fensterhaken, und dann fielen die Haare zwanzig Ellen tief herunter, und die Zauberin stieg daran hinauf.