Tim und der Kilometerfresser. Claudia Jansen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Claudia Jansen
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783960080091
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      Seine Eltern sahen ihm nach, wie er das Esszimmer verließ. Dann erst sagte sein Vater: „Es ist nicht leicht für ihn, was? Ich hatte gehofft, dass ihm unser Urlaub hier so etwas wie Vorfreude auf das Neue geben würde. Tja, nun kommt also der graue Alltag.“ Mit diesen Worten schob er ebenfalls seinen Teller von sich, stand aber nicht auf.

      Seine Frau sah ihn eine Weile schweigend an. Dann stellte sie fest: „Bei dir läuft es ja wohl auch nicht gut, mein Lieber. Willst du mir nicht erzählen, was jetzt wieder vorgefallen ist? Ich spüre doch, dass du dir Sorgen machst.“

      Johannes Burger lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, nahm sein Frühstücksmesser und begann eine Käserinde auf seinem Teller hin und her zu schieben. Es schien, als benötige diese Aufgabe seine ganze Konzentration, denn er sah seine Frau nicht an, als er antwortete.

      „Es hat hier alles so gut angefangen, Esther. Die Arbeit, die Kollegen. Zum ersten Mal bin ich für ein so großes Projekt verantwortlich.“ Er stockte kurz, als wisse er nicht so recht, wie er weitersprechen sollte. „Und jetzt … Eigentlich hat es nach unseren Ferien angefangen. Alles, was ich bauen lasse, wird umgehend wieder zerstört. Jede Straße, egal ob klein, groß, breit, schmal; kaum ist sie fertig, kommt irgendjemand und reißt sie wieder ein. Ich weiß mir keinen Rat.“ Er legte das Messer hin und schwieg.

      Esther fasste über den Tisch nach seiner Hand und hielt sie fest. Sie sahen sich in die Augen. „Es tut mir so leid für dich, Jo“, sagte sie. „Meinst du denn, du hast hier Feinde, jemanden, der vielleicht neidisch ist, dass du diese Stelle bekommen hast?“

      Johannes schüttelte langsam den Kopf. „Ich kann mir das nicht vorstellen, wirklich nicht. Trotzdem habe ich natürlich auch schon die ganze Zeit überlegt, wer so etwas machen könnte. Das ist Sabotage in großem Stil. Und wenn das so weitergeht, wird es mich wohl den Job kosten. Wer will schon einen Projektleiter, der seine Aufgabe nicht im Griff hat?“ Der letzte Satz klang bitter.

      Esther sah auf die Uhr. „Oh, ich fürchte, wir müssen los. Sonst kommt Tim doch noch zu spät.“ Sie stand auf, ging um den Tisch herum und küsste ihren Mann zärtlich auf die Stirn. „Du wirst sehen, es wird alles gut. Ich weiß zwar nicht wie, aber ich bin ganz sicher, dass es so ist. Du bist ein guter Ingenieur und hast hart gearbeitet, um diese Stelle zu bekommen. Lass dich durch diese Rückschläge nicht unterkriegen.“ Sie umarmte ihn kurz und verabschiedete sich: „Bis heute Abend, Jo! Ich denke an dich.“ Dann ging sie nach oben, um nach Tim zu sehen.

      Johannes Burger blieb noch einen Augenblick nachdenklich sitzen, dann begann er den Frühstückstisch abzuräumen.

      Kommissar Ernst Mach war kein gläubiger Mensch. Dennoch ertappte er sich bei so etwas wie einem Gebet, als er den Schlüssel zu seinem Büro herumdrehte. Er hoffte inbrünstig, dass sein Schreibtisch so leer und aufgeräumt sein würde, wie er ihn am Freitag bei Dienstschluss verlassen hatte. Keine Anzeige, keine grellen Zeitungsüberschriften, in denen die Unfähigkeit der örtlichen Polizei Schlagzeilen machte. Es war Montagmorgen und er hatte ein wirklich schönes Wochenende mit seiner Frau Mira verbracht. Bis gerade eben war er entspannt gewesen, hatte sich erholt von den Anzeigen und sich stapelnden Akten über ungelöste Fälle zerstörter Straßen der letzten Woche.

      Jeden Tag eine Anzeige über zerstörte Straßen! Man könnte fast meinen, jemand habe etwas dagegen, dass in seinem Bezirk schöne neue Straßen gebaut wurden. Es war unglaublich: Kaum war der heiße Asphalt trocken und die weiße Farbe auf dem Mittelstreifen aufgetragen, wurde prompt in der folgenden Nacht die gesamte Arbeit der Straßenbauer zunichtegemacht. Weggerissen, ganze Stücke des Belages waren einfach weggerissen! Verschwunden! Der Kommissar und seine Kollegen starrten bei jeder Untersuchung eines Tatortes ratlos in große Löcher und auf ein Bild der Verwüstung. Und weit und breit kein noch so kleiner Schimmer eines Täters. Mach hätte schon graue Haare bekommen, wenn sie nicht bereits alle ausgefallen wären. In seinem Alter konnte man Aufregung nicht mehr so gut verkraften. Er war 58 Jahre alt und freute sich auf seine wohlverdiente Pension.

      Sein Gebet war nicht erhört worden. Als er sein Büro betrat, sah er sofort, dass sein Schreibtisch nicht mehr leer war. „Das darf doch nicht wahr sein!“, entfuhr es ihm. Er ließ seine Arbeitstasche auf den Boden fallen, eilte mit zwei großen Schritten an seinen Arbeitsplatz und riss die Zeitung an sich, die seine Sekretärin fein säuberlich genau in der Mitte platziert hatte.

      Die Schlagzeile lautete: „Unbekannte verüben wieder Anschlag auf neue Straßen! Polizei tappt im Dunkeln!“

      Mach wollte gar nicht lesen, was die Reporter in dem folgenden Artikel über seine bisher erbarmungswürdigen Ermittlungen geschrieben hatten. Mit einem wütenden „Macht’s doch besser, ihr Hyänen!“ pfefferte er die Zeitung in den Papierkorb, ließ sich in seinen Stuhl sinken und zerrte ungeduldig an seinem Krawattenknoten. Er hatte das Gefühl, zu wenig Luft zu bekommen.

      In diesem Moment klopfte es an die Durchgangstür vom Vorzimmer und seine langjährige Sekretärin Frau Müller strecke vorsichtig den Kopf durch die Tür: „Guten Morgen, Herr Kommissar. Tut mir leid, dass gestern doch wieder was passiert ist. Ich habe Ihnen die Zeitung und den Bericht der Kollegen vom Wochenende auf den Schreibtisch gele … Ach, haben Sie wohl schon gesehen. Ähm …“ Es entstand eine kurze Pause. „Möchten Sie vielleicht einen Kaffee? Ich habe ganz frisch aufgebrüht.“ Ohne seine Antwort abzuwarten, zog Frau Müller schildkrötenartig den Kopf zurück und die Tür schloss sich leise wieder.

      Mach war es recht. Was sollte er nur tun? Mit einem Seufzer der Ergebenheit wandte er seine Aufmerksamkeit dem vor Schreibfehlern strotzenden Wochenendbericht seiner Kollegen zu. Er war so vertieft darin, dass er kaum bemerkte, wie Frau Müller ihm den ungebetenen Kaffee auf den Schreibtisch stellte und sich ohne ein weiteres Wort wieder zurückzog.

      Den Unterlagen zufolge war eine am Freitag fertiggestellte Landstraße in der Nacht von Samstag auf Sonntag auf der Länge von dreißig Kilometern praktisch verschwunden. Die herbei gerufenen Beamten hatten am Sonntag auf weiten Strecken nur noch den „Untergrundschotter“ vorgefunden, der eigentliche Asphalt war wie vom Erdboden verschluckt. Bei dem Wort „Untergrundschotter“ umspielte ein bitteres Lächeln Machs Lippen. Ohne es wirklich zu wollen, hatte er in letzter Zeit viel über den Straßenbau gelernt und so wusste er, dass seine Kollegen wohl den Splitt meinten, der als Schicht unter der Oberfläche aus Asphalt aufgebracht wurde.

      In einem dunklen Schuppen irgendwo in einem Berliner Vorort wartete der Kilometerfresser geduldig, dass es Nacht werden würde. Er hatte sich eine neue Strecke vorgenommen, es war alles geplant: Im Schutz der Dunkelheit würde er den Schuppen verlassen und wie schon in den Nächten zuvor Richtung Norden rasen. Bisher hatte ihn niemand aufhalten können und er hatte auch nicht vor, sich stoppen zu lassen. Er war wild entschlossen, seinen Plan in die Tat umzusetzen.

      Mach wusste, dass er einen schlechten Tag erwischt hatte. Seine Laune war im Keller und wurde durch die Ankündigung, dass sein Chef ihn umgehend zu sprechen wünschte, nicht gerade verbessert. An einem solchen Tag sollte man sein Bett am besten gar nicht verlassen, fand er. Aber dafür war es nun zu spät.

      Er klopfte an der Bürotür seines Vorgesetzten und wartete höflich auf Kellers zackiges „Herein“, bevor er eintrat.

      Keller strahlte und winkte ihn näher. „Ah, gut, dass Sie da sind, Kollege!“

      Mach sah, dass der Polizeichef nicht allein war. Ein ihm unbekannter Herr mittleren Alters besetzte den einzigen Besucherstuhl im Büro seines Vorgesetzten, was Mach zwang, stehen zu bleiben. Eine unangenehme Situation für