Portrait Michael Heubach
Der fahrende Oberförster
Wenn man es ganz genau nimmt, muss die Geschichte der frühen Luftfahrt umgeschrieben werden. Denn ein sächsischer Luftfahrtpionier erfand, lange vor Graf Zeppelin, das erste lenkbare Luftschiff, und zwar mit sehr bescheidenen finanziellen und technischen Möglichkeiten. Leider ist dies in der Öffentlichkeit recht unbekannt.
Dass Graf Zeppelin der Erfinder ist, denken viele, weil dieser Luftschiff-Typ ein riesengroßer Erfolg war. Somit wird der Begriff „Zeppelin“ heute häufig synonym als Gattungsname für alle Arten von Luftschiffen angewandt. Richtig ist aber, dass bereits 21 Jahre zuvor, also 1879, der königlichsächsische Oberförster und „Freizeit-Aeronaut“, Ernst Georg August Baumgarten, aus Johanngeorgenstadt im Westerzgebirgees mit seinem fünften ausgeklügelten eiförmigen und circa zwanzig Meter langen Luftschiff schaffte, vom Boden abzuheben und somit der wirkliche Erfinder des lenkbaren Luftschiffes war. Sowohl diesen als auch in dem Zusammenhang unbedingt nennens- und erwähnenswerten anderen sächsischen Luftschiffpionier, Dr. Friedrich Hermann Wölfert, einen Verlagsbuchhändler aus Leipzig, kennt heutzutage ebenfalls kaum noch jemand. Beide wurden in ihrer Zeit verkannt, weil ihre Gedanken zu weit vorauseilten.
Der königlich sächsische Oberförster Baumgarten hatte, damals unvorstellbar, autodidaktisch die konstruktive Lösung des lenkbaren Luftschiffes gefunden. Seine ersten erfolgreichen Aufstiege mit seinem „Flügelluftschiff” fanden 1879 in Grüna (heute ein Stadtteil von Chemnitz) statt. Im gleichen Jahr traf er mit Dr. Wölfert zusammen. Begeistert von Baumgartens Luftschiffideen bot er finanzielle Hilfe und Zusammenarbeit an.
Ermutigend waren die erfolgreichen Aufstiege in Leipzig und Berlin, leider gab es auch immer wieder Rückschläge. So untersagte 1881 Baumgartens vorgesetzte Behörde, alle weiteren „unsinnigen Luftschiffexperimente“ zu unterlassen, und entließ ein Jahr darauf den heimlich Forschenden aus dem Amt. Nachdem er in einer Auseinandersetzung, in der es um seine Luftschiffe ging, zum Gewehr gegriffen hatte, wurde er im Januar 1883 in die Landesirrenanstalt Colditz eingeliefert. Man erklärte ihn kurz gesagt für geisteskrank. Wenig Zeit später musste Baumgarten erleben, wie seine verarmte Familie, Frau und acht Kinder, unter Vormundschaft gestellt wurden. Im Alter von 47 Jahren starb er mittellos, verkannt und depressiv in der Nervenheilanstalt in Zschadraß bei Colditz.
Das lenkbare Luftschiff
Dr. Wölfert – Holzstich von 1896
Wölfert führte die Arbeiten kurzzeitig allein weiter. Erst die Zusammenarbeit mit dem deutschen Ingenieur, Konstrukteur und Industriellen, Gottlieb Daimler, dem Erfinder des Benzinmotors und des ersten vierrädrigen Kraftfahrzeuges mit Verbrennungsmotor, der über einen Zeitungsartikel auf Wölfert aufmerksam wird, brachte schließlich einen weiteren Erfolg. Fortan fahren Wölferts Luftschiffe mit dem dringend benötigten Daimler-Benzinmotor. Am 12. Juni 1897 stirbt auch er beim Absturz seines neuen Luftschiffs „Deutschland“.
Wölferts Ideen greift Ferdinand Graf von Zeppelin auf und wird später der Begründer des Starrluftschiffbaus, seiner Zeppeline. Als dann gar seine Luftschiffe in den 1930er Jahren mehrmals im Jahr als Post- und Passagierluftschiffe eingesetzt und benutzt werden, sind die Namen Baumgarten und Dr. Wölfert längst in Vergessenheit geraten.
Doch die Welt-Geschichte verweist auf weitere Luftschiff- Bezüge zu meiner Heimatstadt. Als Luftschiffhafen und Fliegerstation wurde der Flughafen Leipzig-Mockau am 22. Juni 1913 eröffnet. Zur Einweihung der bis dato größten Luftschiffhalle der Welt reiste eigens Graf Zeppelin von Potsdam kommend, mit dem Luftschiff LZ 17 „Sachsen“ an, wo er vom sächsischen König Friedrich August III erwartet wurde. In den Jahren danach starteten von hier einige hundert Zeppeline und Flugzeuge. Somit war Leipzig-Mockau zudem weit über die 20er Jahre hinaus das mitteldeutsche Luftdrehkreuz.
In Anlehnung an die nur circa 100 Meter von der jetzigen Glashalle der Neuen Leipziger Messe entfernte, einst befindliche, größte Luftschiffhalle der Welt und eben auch an den Leipziger Hauptbahnhof wählten die Messe-Architekten das gläserne Halbrund.
Aufgehoben
Geschichte und Geschichten um das Phänomen Zeit. Nicht in dem Sinne „alte Zeit“, sondern: dass mal etwas gewesen ist, was nicht mehr da ist. Also nicht die Vergangenheit – die Vergänglichkeit, dies interessiert und fasziniert mich.
An einer ganz besonderen Geschichte möchte ich Sie teilhaben lassen. Eine Alltagsgeschichte, die als Notizen einer Leipziger Schrankenwärterin daherkommt, welche nach 1945 ihre Tagesabläufe auf Fahrkarten, Lotteriescheinen und Zetteln notierte. Ein halbes Arbeiter-Leben lang hatte Martha Lehmann, die Mutter dreier Söhne, auf ihrem einsamen Posten inmitten der Kleinstadt Taucha ihren Dienst getan. Tagtäglich und präzise wie ein Uhrwerk erfüllte die Schrankenwärterin auf ihrem Posten 46 (Überweg Graßdorfer Straße) ihre Pflicht.
Früher kannte man noch den Schrankenwärter, der die Schranken mit der Hand nach oben oder unten kurbelte – heute so gut wie verschwunden. Ein Glockenwerk kündigte durch eine unterschiedliche Anzahl von Schlägen das Dampfross von A nach B und B nach A an. Ein Blick auf die 50er Jahre aus einem Schrankenwärterhäuschen in Ostdeutschland – am Stadtrand von Leipzig. Hier hat sie, die Arbeiterin, Trümmerfau und Eisenbahnerin das vergangene Jahrhundert erlebt und durchlitten. All die Jahre, die sie lebte und ihren Dienst an der Bahnstrecke versah, gab es eigentlich nichts Besonderes an ihr – der bescheidenen alten Frau. Nun ist sie tot (1888 - 1971) und niemand hat sie nach ihrer Erinnerung befragt.
Als sie starb, hinterließ sie jedoch etwas Bemerkenswertes – eine Sammlung eigenartiger Aufzeichnungen. Denn wenn ihr Arbeitsalltag seine stillen Minuten hatte, nahm sie gelegentlich einen Zettel und schrieb darauf, was die Zeit gerade so brachte und was ihr Gemüt bewegte. Und weil sie das über Jahrzehnte beharrlich tat, sind es sehr viele Zettel geworden. Das winzige Format beschränkte ihre Aufzeichnungen auf wenige Worte. So dass auf diesen Zetteln nur das steht, was ihr, Martha Lehmann, wichtig genug schien, festgehalten zu werden. Ein Beispiel: 7. Juli 1952, Posten 46, Taucha. Einige Tage sehr heißes Wetter. Himbeeren, Erdbeeren, Stachelbeeren, eine Pracht! Von den 12 Küken sind 7 Hähne. Hoffentlich kommt kein 3. Krieg. (Vgl.: Dokumentarfilm „Martha Lehmann“, Peter Voigt, 1972)
Aufgehoben, im wahrsten Sinne des Wortes hat sie unzählige Papierschnipsel – Rückseiten von Einzahlungsbelegen für Miete oder Solidaritätsspenden – auf denen sie über Jahre ihre Gedanken festgehalten hat, das, was ihren Alltag ausmachte und das, woran sie sich erinnerte. Dies wiederum war dem Dokumentaristen Peter Voigt († 12. März 2015 in Berlin) einen Kurzfilm wert. Im Jahre 1971 entstehen einfache, klare Bilder, in dem das Leben und ihr Charakter, durch Kargheit sichtbar werden.
Heute erinnert dieser fast in Vergessenheit geratene Dokumentarfilm „Martha Lehmann“ an eine verschwundene Gesellschaft und an eine Biographie, die von ihr geformt wurde. Als Gedächtnismedium bewahrt er Vergessenes und fordert zum Erinnern heraus. In keinem anderen Genre, hätte man über diese Frau einen Film gemacht. Da man sie wohl kaum irgendwo anders als bildgewaltig eingestuft hätte.
Martha Lehmann erlebte die Premiere des Filmes im April 1972 leider nicht mehr.
Farrokh Bulsara, der große Blender?
So absurd es für einige klingen mag, ich gehe gern auf Friedhöfen spazieren, besonders auf der mit 78 Hektar größten Friedhofsanlage in Leipzig, dem Südfriedhof, der zu Recht als einer der größten und schönsten Parkfriedhöfe in Deutschland zählt. An diesem Ort kann man bei einem Spaziergang so herrlich seinen Gedanken nachhängen, die Seele baumeln lassen und so viel Normales entdecken, wenn man die Augen aufmacht und