Im Schmöckwitzer Bootshaus direkt neben der «Pallanges Paddelboot namens Early Bird. Eine der kleinen Freiheiten im Sozialismus war, dass man sein Boot und seine Kinder nennen durfte, wie man wollte, jedenfalls beinahe. Der Stasi-Beauftragte im Amt hatte seinem Sohn den Namen Steve verliehen.
In der Woche blieb Hartmut häufig der Bequemlichkeit wegen – und weil er insgeheim fürchtete, ein anderer könne inzwischen seinen Platz einnehmen, aber das gab er nicht zu – über Nacht bei Carola. Der Weg zur Arbeit war nicht halb so lang. Nach den Anstrengungen der Nacht tat es ihm gut, ein Stündchen länger zu schlafen, auch wenn er die Morgendusche vermisste und sich nur schwer an die morgendliche Katzenwäsche gewöhnen konnte und daran, nachts in den Küchenausguss zu pinkeln. Außerdem bereitete es ihm Schwierigkeiten, in Carolas Küche seine lange Haarpracht zu waschen, auf die er so stolz war. Carola hingegen trug ihre blonden Borsten sehr kurz, was aber durchaus reizvoll aussah. Sie wäre auch mit Glatze noch hübsch gewesen.
Erst freitags und wenn das Wetter es zuließ, fuhren sie nach Dienstschluss raus nach Schmöckwitz, machten die Birdklar und bauten Hartmuts winziges Zelt in Rauchfangswerder, auf dem Seddinwall oder einfach gleich drüben an der Krampe auf und blieben dort bis zum Sonntagabend. Der Seddinwall war eine ehemals bewohnte Insel, die schon von weitem mit meterhohen weißen Buchstaben grüßte: Gott schütze uns vor Sturm und Wind und Menschen, die aus Sachsen sind!
Hartmut liebte das Wasser, mochte es noch so dreckig sein, während Carola – nicht etwa des Spruches wegen – ein eher ambivalentes Verhältnis zum feuchten Element besaß. Getrieben vom eigenen Ehrgeiz und dem Stolz ihrer patriotischen Eltern, hatte sie sich vom SC Dynamo in jüngsten Jahren zu einer Freistilschwimmerin ausbilden lassen, auf der große Hoffnungen ruhten. Da ruhten sie allerdings noch immer, denn trotz hilfreicher Pillen und gelegentlicher Auslandsreisen in sozialistische Bruderländer war die Heranwachsende allmählich und schließlich endgültig des ständigen Trainingsdrucks müde geworden und hatte ihre Laufbahn beendet, bevor sie in den Olympiakader aufrücken konnte. Zurückgeblieben waren eine leicht nach vorn gekrümmte Schulter und der Ratschlag des Arztes, es doch einmal mit Schwimmen zu versuchen. Mit Brustschwimmen allerdings und ohne Leistungsdruck. Papa und Mama hatten die Welt nicht mehr verstanden.
Jahre später verstanden sie noch weniger, was ihre Tochter an diesem windigen, gänzlich unehrgeizigen und langhaarigen Ingenieur Hartmut fand, der sich als ein überaus kritischer Bewohner des ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden entpuppte und daraus auch kein Hehl machte. Dass so einer auf Kosten der Werktätigen hatte studieren dürfen und auch noch auf eine – wenn auch untere – Leitungsebene aufstieg, wollte nicht in ihre Köpfe. Stattdessen bedrängten sie Carola, endlich selber zu studieren oder wenigstens in die Partei einzutreten. Das verlangte nicht mal ihr Chef von ihr, obwohl es des dienstlichen Geheimnisschutzes wegen besser gewesen wäre. Er selbst war auch nur drin, weil sich das in seiner Position so gehörte. Und das große Geheimnis, dass es viel zu wenige Telefonanschlüsse gab und sich dieser Dauerzustand auch im nächsten Fünfjahrplanzeitraum nicht ändern würde, teilten die Sekretärin und Oberrat Mohnholz mit der Mehrheit der DDR-Bevölkerung.
Von Carolas Westbesuchern ahnten der Chef, vor allem aber ihre Eltern nichts; in deren Kaderakten kam der West-Berliner Familienzweig schon lange nicht mehr vor. Bis zu jenem unguten Augustsonntag 1961 war den Alten zwischen Arbeit, Parteilehrjahr, Versammlungen und Agitationseinsätzen glatt entgangen, dass die dreizehnjährige Tochter inzwischen dank Cousin Rainer die verbotene Stadthälfte samt allen Kinos und Kaufhäusern am Kudamm kannte und möglicherweise auch deshalb nicht mehr die rechte Freude am täglichen Training empfand.
Carola hatte ihren auch nach dem Mauerbau andauernden Kontakt zu den Erkenbrechers vorsichtshalber nicht angegeben. Rainer ließ sich selten genug im Osten sehen und ödete sie dann auch noch mit Fragen zu marxistischer Fachliteratur an, die sie ihm jedoch willig besorgte. Der Gegenwert an Mitbringseln entschädigte sie allemal für das blöde Gefühl, in einer Buchhandlung so etwas zu kaufen oder zu bestellen. Was sie gerne gelesen hätte, gab’s da sowieso nicht. Rainer hatte mal versucht, ihr einen Simmel mitzubringen. Den hatten sie ihm an der Grenze abgenommen.
«Wie gut kennst du deinen Cousin eigentlich?», erkundigte sich Hartmut. Irgendwie kamen sie nicht weg von diesen Besuchern. Dabei war Hartmut das Gefühl nicht losgeworden, von denen wie ein freilaufendes Zootier betrachtet zu werden.
Carola zuckte mit den nackten Schultern. «Als Teenager habe ich ein bisschen für ihn geschwärmt. Das war eine ganz andere Welt da drüben, und er kannte sich dort bestens aus.»
«War er damals auch schon einen Kopf kleiner als du?»
Carola feixte: «Ist er nicht niedlich?» Sie wusste, wie sie Hartmut ärgern konnte.
Aber der stieg nicht darauf ein. «Kann er das Maul halten?», wollte er wissen.
«Was willst du ihm denn für ein Geheimnis anvertrauen?»
Hartmut schnaufte ärgerlich und knetete dabei abwesend ihre linke Brust.
Sie schob seine Hand weg. «Du möchtest, dass er dir Platten besorgt, stimmt’s?»
Hartmut widersprach ihr: «Quatsch!»
Dabei wusste sie genau, wie scharf er auf Dixieland-Platten war, von denen manche klangen wie auf dem Trichtergrammophon abgespielt. Er geriet förmlich in Verzückung, wenn er das Gequäke hörte. Die Band, zu der er gehörte, klang etwas besser. Er spielte Bass, ein Instrument von beträchtlicher Größe, das gewöhnlich Carolas Korridor verbarrikadierte, weil die Proben und viele Auftritte sowieso in Berlin stattfanden. Es sah ein bisschen merkwürdig aus, wenn der großgewachsene Kerl mit flatternder Mähne und dem Riesending auf dem Buckel auf seinem Habicht fuhr. Nicht weniger merkwürdig, als wenn sie hinter ihm auf dem Moped klemmte. Rainer hatte angeboten, ihnen billig einen VW-Käfer zu besorgen. Leider war die private Einfuhr von Fahrzeugen verboten.
«Er könnte mal ’n Weg für mich erledigen», sagte Hartmut vage.
Sie wurde hellhörig. «Was hast du denn im Westen für Wege zu erledigen?»
Er zögerte lange. «Es ist wegen der Kühns … aus Miersdorf», sagte er schließlich. «Die kennst du doch auch.»
Carola erinnerte sich an das sympathische Ehepaar.
«Die immer mit dem Faltboot rumgurken? Die haben wir mindestens zwei, drei Wochenenden nicht gesehen.»
«Eben. Sie wollten sich gleich melden … wenn sie drüben gut angekommen sind.»
Unwillkürlich setzte sich Carola auf. «Die sind rüber?», fragte sie verblüfft. «Davon hast du mir überhaupt nichts erzählt!»
Hartmut küsste sanft ihre vorwitzige Brustwarze.
«Über so was spricht man ja auch nicht.»
«Was soll das heißen? Hast du kein Vertrauen zu mir?»
Er versuchte, sie zu beruhigen. «Zu dir allemal. Aber ein unbedachtes Wort …»
Sie entzog sich ihm und sagte empört: «Du hältst mich also für ein Quatschmaul!»
«Natürlich nicht! Aber warum sollte ich dich mit so etwas belasten?»
«Weil ich die Leute vielleicht gut leiden kann. Obwohl die mit ihrem Igelit-Boot immer so ein Höllentempo vorlegen.»
«Sie haben hart trainiert. Ist kein Spaß, über die Ostsee zu paddeln.»
Carola war geschockt. «Über die Ostsee? Bist du sicher? Man kann doch auch in Berlin über irgendeinen See oder Kanal paddeln.»
«Kann man nicht!» Hartmut wusste es genau. «Das habe ich mit Günther und Annegret oft genug durchgekaut. Der einzige Weg führt über die Ostsee.»
«Du wusstest es also die ganze Zeit?»
Er nickte. «Wenn es nötig ist, kann ich eben auch den Mund halten.»
Carola sah ihn aufmerksam an. «Hast du selber mal daran gedacht?», fragte sie verhalten.
«Über die