Maria und der Schnuller
Was jetzt kommt, weiß ich nur aus Erzählungen. 6 m vor der Schmiedhaustür führte die befestigte Straße vorbei. Autos fuhren so gut wie keine, es gab ja auch nur ganz wenige in der Stadt. Von Pferden oder Kühen gezogene Wagen, ja, die gab’s. An die Straße grenzte der durch Steinsäulen und eine Eisenstange abgesicherte Dorfteich. Ich war wohl um die zwei Jahre alt und stand an einem Sonntagmorgen mit dem Schnuller im Mund vor der Verandatür. Die damaligen Schnuller waren fleischfarbene Ungetüme mit einem 20 cm langen Schlauch, den man in ein „Tüpfl“ (Tasse) stecken konnte, damit die Kleinen beim Trinken nicht kleckerten. Im Teich schwammen Gänse und Enten und vor dem Haus gingen einige futtersuchend umher. Plötzlich watschelte eine Ente auf mich zu, schnappte nach dem Schnullerschlauch, den sie anscheinend für einen fetten Regenwurm hielt – und ab damit in den Teich. Ein paar andere Enten hinter ihr her um ihr den fetten Wurm abzujagen. Ich schrie wie am Spieß. Die Ente bemerkte ihren Irrtum bald und ließ das ungenießbare Gummiding in die schmutzige Brühe fallen. Der Schnuller war auf Nimmerwiedersehen im Teichschlamm verschwunden. Ich hörte nicht auf zu schreien, auch nicht, als der erste Schreck vorüber war. Jetzt ging es mir allein nur noch um den Schnuller. Als ich zu Mittag immer noch weinte, zog der Großvater sich stadtmäßig an und ging nach Mies in den Konsum um einen neuen Schnuller zu holen. Meinem Großvater wurde nicht gerade große Kinderfreundlichkeit nachgesagt, aber den weiten Weg für einen Schnuller nahm er auf sich. Ob aus Liebe zu seinem ersten Enkelkind oder aus Furcht vor einer durch Kindergeschrei gestörten Nacht, kann ich nicht sagen.
Der Großvater
Überhaupt, mein Großvater. Er redete nicht viel, und wenn er mal fluchte, dann auf Tschechisch, das verstand dann keiner. Er sagte zum Beispiel: „Dostanesch par facek“, was soviel heißt wie: „Ich geb Dir ein paar Watschen“. Ich habe von ihm nie welche bekommen. Ob seine eigenen sechs Kinder davon betroffen waren, weiß ich nicht. Ich könnte mir vorstellen: ja.
Meine Mutter erzähle mir später ein Vorkommnis, das sie selbst auch nur vom Hörensagen kannte, das aber zum Kennenlernen meiner Eltern führte.
Ein heftiger Streit in der Schmiede wurde so schlimm, dass Großvater Großmutter schlagen wollte und mein Vater sich gegen seinen Vater stellte. Vielleicht sogar handgreiflich, ich weiß es nicht; mein Vater hat nie darüber gesprochen. Jedenfalls richtete sich jetzt Großvaters Zorn gegen meinen Vater. Dieser verließ das Haus und wagte sich nicht mehr heim. Er nahm in Techlowitz, das nächste Dorf westlich von Mies, eine Stelle als Knecht an.
In Techlowitz war Katharina Deimling gerade achtzehn Jahre alt geworden und durfte zum Feuerwehrball gehen. So begann es mit den beiden. Ein und ein halbes Jahr später kam ich zur Welt. Der Streit war längst vergessen.
Großvater war der einzige im Dorf, der ein paar Bücher hatte und sie auch las. Einige davon waren religiösen Inhalts, aber mit der Kirche hatte er es nicht unbedingt. Er ging auch nicht ins Wirtshaus. Nach dem Tod seiner Frau wurde er immer menschenscheuer. Er arbeitete viel, obwohl ihm sein Rheuma zu schaffen machte. Dann rieb er die schmerzenden Stellen mit selbsterzeugten Mitteln ein und schwitzte im Bett. Ich sah ihm oft zu, wie er mit einer halbgefüllten Weingeistflasche in den Wald ging. Er legte sie schräg in einen Ameisenhaufen, so lange, bis ganz viele Ameisen hinein gekrabbelt und ertrunken waren. Da hinein steckte er noch frischgrüne Maifichtenspitzen und Arnikablüten. Das musste eine Zeit lang ziehen. Dann wurde das Ganze abgeseiht. Dieses Gemisch war das Jahr über seine Rheumamedizin.
Zwinger, so klein das Dorf auch war, hatte zwei Wirtshäuser. Eines am Dorfende zur Stadt hin, eines am Dorfende gegen Vranoa. Im „oberen“ Wirtshaus gab es sogar einen Tanzsaal mit einer Bank entlang an allen vier Wänden und einer Musikanten-Empore. Ich sah den Tanzenden manchmal zu – natürlich nur am Nachmittag. Großvater ging nie ins Wirtshaus. Er holte sich, oder ließ sich holen, selten genug, eine Flasche Bier nach Hause. Aber an Peter und Paul, wenn die Verwandtschaft zum Festbesuch kam und Tante Anna, Tante Marie und Mama alle Hände voll zu tun hatten, ging Großvater schon früh in den Wald. Um mit niemanden „dischkerieren“ zu müssen, wie er es nannte. Erst bei Dunkelheit fand er sich wieder ein. Da waren dann die Besucher schon fort.
Großvater war schon über sechzig, als er, wie alle Sudetendeutschen aus der böhmischen Heimat, vertrieben wurde. Er lebte sehr still und unauffällig mit meiner Tante Anna bei deren Familie in Allersberg bei Nürnberg. Tante Marie und Tante Emmi fanden in diesem Ort auch ihre neue Heimat. Heimat? Heimat wohl nicht. Halt ein Zuhause, wie alle Vertriebenen. Eine Aufgabe hatte Großvater nicht mehr, kein Vieh, keine Felder. Aber, solange er konnte, ging er „in die Zelch“ (über die Felder), um zu sehen, wie das Getreide stand im Jahreslauf. So hatte er es in Zwinger auch gehalten. Dieses Beobachten der Natur im Wachsen und Reifen verband ihn wohl innerlich mit seinem Zuhause – auch wenn es nicht mehr seine eigenen Felder waren, über die er schritt. Er ist sechsundachtzig Jahre alt geworden und so still gestorben, wie er seine letzten Jahre gelebt hat.
Schuhe, Pantoffeln und Stricken
Man sagt, die Landbevölkerung habe gesunde Füße, weil die Kinder immer barfuß liefen. Sicher liefen manche oft barfuß, aber keineswegs immer. Und ich schon gar nicht. Wenn ich es doch einmal versuchte – schon hatte ich abgestoßene, blutige Zehen. Und die taten sehr weh. Schuhe waren für jedes Kind schonungsbedürftige Seltenheiten, die man beim Kirchgang oder zu Stadtbesuchen anziehen durfte. Holzpantoffel dagegen gab es genug. In jeder Familie gab es jemanden, der sie herstellen konnte. Man war mit Holzpantoffeln auch gleich 5 cm größer, so dick waren die Sohlen. Und praktisch waren sie auch. Denn bei Regen waren die Wege im und rund ums Dorf, bis auf die vor der Schmiede vorbeiführende Gemeindestraße, grundlos aufgeweicht. Die dicken Sohlen hielten den Matsch fern. Man sparte sich beim Holzpantoffel tragen auch das lästige Auf- und Zubinden, wie es bei Schuhen nötig ist. Die Pantoffel wurden im Vorhaus von den Füßen gestreift, und jeder, groß oder klein, ging nur auf Socken, im Sommer barfuß, in die Stube. An Hausschuhe kann ich mich nicht erinnern; nur an wollene, selbst gestrickte Socken, denen eine leinene Sohle aufgenäht war, damit sie strapazierfähiger wurden. Socken stricken war die Hauptbeschäftigung in den abendlichen Mußestunden. Sobald ein weibliches Wesen mit Stricknadeln umgehen konnte, und das war sehr früh der Fall, spätestens jedoch mit vierzehn Jahren, wurde unentwegt gestrickt. Socken stricken war auch bei Petroleumlicht möglich. Zwei links, zwei rechts. Oder glatt im Fußling, das ging auch bei spärlicher Beleuchtung. Die Ferse oder gar Trachtenwadenstrümpfe mit Muster aus weißem Baumwollgarn mussten bei Tageslicht gefertigt werden, denn „Nähteln“ (Randmaschen) zählen, oder Maschen auf- und abnehmen war heikel. Das abendliche Zusammensitzen dauerte selten lange. Erstens war jeder müde vom Tag, zweitens war das Petroleum für die Lampe zu teuer und drittens musste man die Unterhaltung selber gestalten.
Radio oder gar Fernsehen waren völlig unbekannte Dinge. Das war in allen Häusern ähnlich. In unserer „Schmied“ kam noch dazu, dass Großvaters Bett in der „Stuben“ stand und nicht in der Schlafstube, wo alle anderen schliefen. Großvater brauchte es warm wegen seines Rheumas und außerdem wollte er seine Ruhe haben. Wenn er