Und dann wurde sie erwachsen, und ihre leichtere, interessantere Seite war auf einmal nicht mehr da, als sei ein wichtiger Teil ihrer Persönlichkeit brutal amputiert worden. Das Spiel ihrer Gesichtsmuskeln vereinfachte sich, ihre Stimme nahm einen bodenständig sonoren Klang an, der Kinder und nervöse Yogaschülerinnen zu beruhigen vermochte. Ihre Beweglichkeit und Ambiguität war einer ausdruckslosen Säulenanmut gewichen, die Milton unpassend und irritierend fand. Eines Tages musste er sich eingestehen, dass ihn seine Schwester langweilte. Wie ein geliebter Song, den er sich jahrelang angehört hatte, und dem plötzlich die Bässe abhanden gekommen waren, bis nur noch ein kopflastiges Gedudel übrig blieb. Der Text handelte von Kindern, Küche, Krankheiten, Körperpflege; ein klebriger Brei aus unzähligen anderen Texten, von Zeitung, Funk und Fernsehen immer wieder neu kombiniert, bis sie nichts mehr bedeuteten. Miriam fand er darin nicht wieder, und Mime war zum Alltagsmensch geworden: statisch, erdgefesselt, mit beiden Beinen im Leben. Ihre Intelligenz schien sie aufgegeben oder für später an einem sicheren Ort versteckt zu haben.
Milton geizte nicht mit Sticheleien. Er hoffte, auf einen Nachhall ihres früheren Ichs zu stoßen. Manchmal glaubte er gar, ein Echo zu hören. Das ermutigte ihn, sie immer weiter zu provozieren, bis sie ihn und seine Besuche kaum noch ertragen konnte. Milton ist ein Sadist, sagte Mime ihren Freundinnen. Am liebsten würde er mich aufspießen wie ein Insekt und mir dabei zusehen, wie ich mich quäle. Liebenswert geht anders.
Er kam aber weiterhin regelmäßig bei ihr vorbei und Mime ließ ihn. Ab und zu schickte sie ihn mit den Zwillingen auf den Spielplatz, wo er sie auf die längsten Schaukeln setzte und ihnen Schwung gab, bis sie kreischten.
Die Schuhe waren bequemer als Milton gedacht hatte. Die schmalen Riemchen hielten erstaunlich gut und die gewichtigen Absätze erwiesen sich als breit genug, ihn über die tückischen Rillen des Kopfsteinpflasters hinwegzutragen, ohne ihm dabei das Gleichgewicht zu nehmen. Sein kinnlanges Haar hatte er sich von Viktor zu einer steifen Pagenfrisur toupieren lassen, und über dem Erbkleid der einstigen Ringelnatz-Verehrerin trug er eine Kunstnerzjacke, die ihr ebenfalls gehört hatte. Das Ensemble passte perfekt.
In Miltons Handtasche befand sich eine versilberte Zigarettenspitze und ein Fläschchen Absinth, aus dem sich auch Viktor hin und wieder bediente. Aus Stilgründen hatte Viktor ausnahmsweise auf seine Perücke verzichtet. Er kombinierte seinen glänzenden Kugelkopf mit einem noch glänzenderen, sinister aussehenden schwarzen Anzug, der an gewissen Stellen unübersehbare Ausbuchtungen aufwies. Eine schwere vergoldete Halskette machte seine Bodyguard-Verkleidung perfekt. Viktors Bulligkeit ließ die Leute automatisch zur Seite ausweichen, selbst wenn sie im Hexenkostüm und betrunken waren. Miltons Schritte wurden durch das enge Kleid begrenzt, er trippelte hinter Viktor her und musste über sich selbst lachen. In Sachen Frau-Sein versprach ihm diese Rosenmontagsnacht Erlebnisse, die seine Schwester nur aus Büchern und Filmen kannte. Die Erfahrung, in einer Nylonstrumpfhose kalte Beine zu kriegen, gehörte sicherlich dazu.
Die Blaskapellen furzten donnernde Märsche durch die eisige Winterluft. Viktor hatte an einem Glühweinstand angehalten und reichte Milton einen Pappbecher, dessen Wärme ihm angenehm durch die Samthandschuhe kroch.
„Hey, Josephine.“ Viktor stieß seinen Becher gegen den von Milton. „Manche mögen’s heiß an solchen Tagen.“
Tatsächlich. Miltons vorübergehende Ähnlichkeit mit Tony Curtis in seiner besten Rolle war nicht zu leugnen. Bereits zu Hause vor dem Spiegel war ihm die erstaunliche Melancholie in seinen Augen aufgefallen, als er sich von Viktor mit Kamm und Bürste an den Haaren ziehen ließ. Nun nahm er die Wärme des Glühweins dankbar hin, wartete ab, bis ihm das Gewürz Nase und Kehle zu reizen begann, und hustete prompt. Eine Frau im grünen Seegeist-Kostüm, die einer Riesenbürste in der Autowaschanlage ähnelte, rückte von ihm ab. Sicher war ihre Aufmachung besser für die Straßenfastnacht geeignet als seine. Schweißperlen standen auf ihrer Oberlippe. Grimmig sah sie aus, kein Einzelfall in den auf Fröhlichkeit programmierten Menschenmassen. Zwischen den lustig Verkleideten zeigten sich immer wieder düstere Gesichter, enttäuschte, gelangweilte, durch Alkohol erzürnte. Sie guckten unter Perücken und über riesigen Krägen hervor, hinter roten Nasen und dicken Brillen mit aufgemalten Augen. Milton hatte Clowns nie gemocht. Unbehagen und Missstimmungen wurden auf die Kälte geschoben, auf die letzte Runde Obstler, auf die Thüringer Rostbratwurst, auf das schlecht sitzende, alberne Kostüm, die Augenmaske, durch die man nicht alles sehen konnte. Wer war schon so ehrlich, sich nach einer durchkämpften Faschingsnacht, schlechtem Alkohol und noch schlechterem Sex mit fremden Biedermenschen einzugestehen, wie enttäuschend das alles war? Die meisten würden am nächsten Tag erneut losziehen, auf der verzweifelten Suche nach dem versprochenem Vergnügen.
Viktor holte seinen Staublappen aus der Hosentasche und wischte sich über den Kopf. Eine seiner Kundinnen, eine ernst wirkende Dame, die sich in ein völlig unpassendes, silbrig reflektierendes Raver-Kostüm gezwängt hatte, erkannte ihn und rief ihr verstreutes Rudel Freunde herbei. Viktor wurde von allen Seiten umringt. Schnapsflaschen im Miniaturformat machten die Runde. Viktor trank kräftig mit, Milton sah ihm zu. Die Kundin und zwei weitere Frauen hatten den Staublappen an sich gerissen und versuchten spielerisch, ihn Viktor um den Hals zu knoten. Die dazugehörigen Männer, alle drei in samtenem Gurken-Outfit, klatschten zum Rhythmus der Marschmusik.
Viktor lief langsam rot an und Milton überlegte schon, ob er ihm zu Hilfe kommen sollte. Da stieß ihn jemand in die Seite. Glühwein schwappte ihm über die Finger und sickerte durch den Stoff seiner Handschuhe.
„Madame?“ Der Mann, der ihn gestoßen hatte, hielt seinen eigenen Becher entschuldigend in die Höhe. Er trug einen Camouflage-Overall mit rosa und olivgrünen Flecken und einen Blechtopf von der Wehrmacht auf dem schütteren Haupthaar. „Möchten Sie noch einen?“
Milton lächelte. Er hatte diesen Menschen schon mal gesehen, aber wo? Der andere starrte ihm eine Weile ins Gesicht und fuhr dann erschrocken zurück.
„Madame ist ein Mann?“
Jetzt erinnerte sich Milton. Vor ihm stand der Besucher aus dem Feuerwehrmuseum, der ihn mit der Uniform erwischt und schließlich den Job gekostet hatte. Damals trug der Mann einen Trenchcoat. Sein Camouflage-Overall samt Kopfbedeckung ließ ihn noch unvorteilhafter aussehen. Er schien seit mindestens drei Nächten nicht mehr geschlafen zu haben. Hohle Wangen hatte er, und seine Lippen glänzten unnatürlich rot.
„Im richtigen Leben schon“, gab Milton zurück. „Und Sie?“
Der Mann spreizte seine Finger nacheinander, als wollte er auf dem Plastikbecher Flöte spielen, dann hob er die rechte Hand und zeigte auf seinen Overall. „Immer“, bekannte er.
„Das ist aber ungesund fürs Sexualleben.“ Eine Welle gähnender Langeweile überkam Milton. „Wenigstens im Fasching sollten Sie sich mal eine Auszeit gönnen.“
In den glühweinvernebelten Augen des Mannes stieg Sorge hoch. „Wie meinen Sie das?“
Milton spürte, wie der feuchte Stoff seiner Handschuhe langsam kalt wurde, er bereute, sich auf das Gespräch eingelassen zu haben. Viktor stand immer noch inmitten seiner Verehrerinnen. Inzwischen prangte der Staublappen als rosenkohlartiger Knödel auf seiner Nase, festgeklemmt unterm Brillengestell.
„Wenn Sie tagein, tagaus immer das Gleiche machen, können Sie irgendwann überhaupt nicht mehr.“ Damit hoffte Milton, den Mann loszuwerden. „Das geht auf die Psyche, auf die Libido, auf die Potenz. Und dann müssen Sie zum Psychologen. Der Anfang vom Ende.“
„Wie furchtbar.“ Der Mann starrte in seinen Glühweinbecher. „Genau das sagt meine