Pia krabbelt unter dem Tisch hervor. Nicht dieser Schmerz. Nein, nicht dieser Schmerz. »Ist ja gut, Mama«, sagt sie leise und streicht der Mutter über die Hand. »Ich hab dich lieb, Mama.«
Die Mutter nimmt Pia in die Arme. »Ich liebe dich, Kleinet«, sagt sie.
»Ich weiß, Mama, ich weiß.«
Im Keller ist es totenstill. Pia sieht unsicher von Andrea, die sich neben sie gesetzt hat, zu Nesè und zurück.
Nesè wischt sich eine Träne aus den Augenwinkeln. »Scheiße«, murmelt sie.
Pia spürt erst jetzt, dass Andrea den Arm um sie gelegt hat und vorsichtig ihren Rücken streichelt.
»Danke für dein Vertrauen«, sagt Andrea.
Gut, dass sie es den beiden erzählt hat. Nur was hat sie eigentlich gesagt? Sie räuspert sich, und Andreas Hand auf ihrem Rücken verharrt in der Bewegung.
»Das ist komisch gewesen mit dem Erzählen«, sagt Pia und ihre Stimme krächzt.
»Was meinst du mit komisch?«, fragt Andrea.
»Es ist schwer zu erklären. Es fühlt sich an wie … wie ein Sprung zurück in meine Geschichte. Ein Zeitsprung sozusagen. Diese Zeit«, fährt sie plötzlich atemlos fort, »kommt zurück, als würde alles noch einmal geschehen, genau so wie es vor über fünf Jahren war.«
Andrea nippt an ihrem Glas. »Stimmt, jetzt wo du es sagt, fällt es mir auch auf. Ich habe die Szenen, die du beschrieben hast, ganz deutlich vor mir gesehen.«
»Ging mir genauso.« Nesè wischt sich noch einmal über die Augen. »Es dauert vielleicht, bis du mal redest. Aber wenn du es dann tust, geht es einem verdammt nah«.
»Jetzt reden wir von etwas anderem, ja? Sonst platz ich vor Verlegenheit«, bittet Pia.
»Unser Zusammenwohnen ist übrigens megaklasse, erwähnte ich das schon?«, wechselt Andrea sofort das Thema.
»Nee, tatest du nicht«, grinst Nesè. »Dann seid ihr wohl jetzt ein Liebespaar?«
Pia fährt erschrocken hoch.
»Aua.« Andrea hält sich das Kinn. »Ich hätte mir fast die Zunge abgebissen.« Tränen schießen ihr in die Augen.
»Oh, Mann, Andrea, entschuldige.« Wütend funkelt Pia Nesè an, doch die grinst weiter. »Freut dich wohl«, faucht sie und versteht selbst nicht, wieso sie so auf Nesès Provokation abfährt.
»Bleib cool«, meint Nesè. »Es gibt Schlimmeres als sich in ein Mädchen zu verlieben.«
Pia kneift die Augen zusammen. »Was soll das denn heißen?«
»Dass du manchmal ganz schön impulsiv bist, zum Beispiel.«
Pia wirft mit einer Salzstange nach ihr. Ihr Ärger ist genauso plötzlich verflogen, wie er aufgeflammt war.
»Klar sind wir ein Liebespaar«, schmunzelt Andrea. »So wie die Mädchen aus der Regenstraße.«
»Die Mädchen aus der Regenstraße sind andersrum?« Wieso wissen immer alle Bescheid, nur sie nicht? Pia rutscht unruhig auf der Couch hin und her. »Nun sag doch mal«, bohrt sie. »Woher weißt du das?«
»Erstens bin ich mit Hannelies befreundet, und die wohnt ja da, und zweitens hab ich Augen im Kopf.«
»Alle Mädchen?« Pia kann es nicht fassen.
»Nein, nicht alle Mädchen, aber mindestens zwei«, gibt Andrea bereitwillig Auskunft. »Eine ist mit einem Mädchen hier aus dem Internat zusammen und die andere hat eine Freundin in Köln.«
»Also«, sagt Pia langsam, »für mich wäre das nichts.« Die Worte tun ihr weh, aber sie muss sie sagen. Unbedingt!
»Wie spät ist es eigentlich?«, unterbricht Nesè und sieht lässig auf ihre Uhr. »Oh-oh, schon Viertel nach zehn. Ich muss mich jetzt an der ollen Libora vorbeischleichen, während ihr weit weg von Schwester Arnoldis laut pfeifend in euer gemeinsames Zimmer spazieren könnt.« Sie zieht einen Schmollmund.
»Bald kommst du auch raus aus der Horrorgruppe«, tröstet Pia sie, und Nesè steht ächzend auf.
»Okay, ich werde der Libora sagen, dass du mich dazu verführt hast, gegen die Hausordnung zu verstoßen. Dagegen spricht doch wohl nichts?« Nesè zieht die rechte Augenbraue hoch. Das kann keine so gut wie sie.
»Kein Problem«, steigt Pia ein. »Mehr unten durch kann ich bei der gar nicht sein.«
»Sie hat dich in die Psychiatrie gebracht?«, schaltet Nesè sofort.
»Wer sonst?« Pia ist aufgestanden und hält Andrea ihre Hände hin. »Na los, altes Faultier. Ich helf dir hoch.«
Als Pia im Bett liegt, geht ihr Nesès Frage durch den Kopf. Andrea und sie ein Liebespaar? Vorsichtig schielt sie zu ihrer Freundin hinüber, die tief und fest schläft.
Wie ist Nesè darauf gekommen? Und wieso hat sie darauf so heftig reagiert? Irgendwie hat sie sich ertappt gefühlt. Bescheuert, wieso ertappt? Zwischen ihr und Andrea spielt sich überhaupt nichts ab. Nichts jedenfalls, was mit Liebespaar zu tun hat. Pia schüttelt den Kopf. Und dann fällt ihr das neue Mädchen wieder ein. Phil!
Plötzlich sieht sie Phils Gesicht wieder genau vor sich, und ihr wird heiß. Erschrocken versucht Pia das Bild abzuschütteln. Katzengrüne Augen, etwas schräg gestellt, und Tausende von Sommersprossen, die einen wilden Tanz vollführen, wenn sie lacht. Und die dunkelbraunen Locken erst. Pia denkt an Phils Hände. Wie sie Brot bestreichen, eine Locke hinters Ohr stecken, einen Ball auffangen und wieder wegwerfen, wie sie ihre Worte mit Gesten untermalen.
Wie sie ihre Haut streicheln. Eine heiße Welle steigt Pia in den Kopf und sie spürt ihre Mitte feucht werden. Sie ist verwirrt. Verwirrt und glücklich. Vorsichtig tasten ihre Finger sich nach dorthin vor. Sie schließt die Augen. Stellt sich Phils Hände vor. Als sie aufstöhnt, reißt sie erschrocken die Augen auf. Hat Andrea sich gerade bewegt? Pias Herz galoppiert. Nein, Andrea atmet genauso ruhig und gleichmäßig weiter wie vorhin.
In der Bravo steht fast jede Woche irgendwas über Selbstbefriedigung. Sie betonen immer, wie normal das ist. Und wie normal erotische Phantasien sind. Pia ist sich nicht sicher, ob die Bravo das auch noch findet, wenn ein Mädchen sich vorstellt, von einem Mädchen angefasst zu werden. Sie will nicht aufhören sich zu streicheln. Vielleicht müsste sie sich mit Händen und Füßen dagegen wehren. Morgen, tröstet sie sich. Morgen kann sie immer noch darüber nachdenken, ob sie jetzt pervers ist oder einfach nur die nächste Kandidatin für die Regenstraße.
3. Kapitel
Ende März 1999
»Pia, wach endlich auf.« Andrea steht schon völlig angezogen vor ihr. »Das ist das dritte Mal, dass ich dich wecke. Das Frühstück hat vor fünf Minuten angefangen und ich habe mächtig Hunger.«
»Alles klar, bin schon im Bad. Reservierst du mir ’nen Kaffee, sonst steh ich den Tag nicht durch.«
Atemlos und mit nassen Haaren taucht sie zehn Minuten nach Andrea im Speisesaal auf. Hey, wieso sitzt du denn heute auf meinem Platz, will sie gerade zu Gudrun sagen, als sie bemerkt, dass der Platz neben Phil dadurch frei geworden ist. Für eine Sekunde setzt ihr Herz aus und sie beißt sich auf die Zunge. »Guten Morgen, Gudrun«, schaltet sie um. »Ich setz mich dann einfach auf deinen Platz.«
Schwester Arnoldis wirft ihr einen ärgerlichen Blick zu, und Pia lässt sich schnell auf den freien Stuhl fallen.
»Hey, hast wohl verschlafen.«
Diese Augen. Pia spürt, wie sie knallrot wird. »Ja, war ’ne anstrengende Nacht«, würgt sie hervor. Als sie sich Kaffee eingießen will,