Der junge Mann trug einen Krankenhauspyjama und saß aufrecht in seinem Bett. Er war allein in einem Zweibettzimmer. Mit ausdruckslosem Gesicht hörte er zu, als Kate und Taylor sich vorstellten, musterte ihre Dienstmarken und antwortete knapp auf Kates Frage: Sein voller Name lautete Kyle Thomas Jensen, er wohnte in Hollywood, North Western Avenue Nr. 1699.
Kate musterte ihn prüfend. Er war muskulös, mit dünnem sandfarbenem Haar, das ihm lang in den Nacken hing. Auf seinen Wangen sprossen helle Stoppeln, und ein dicker Schnurrbart betonte eher noch den sinnlichen Schwung seiner leicht bogenförmigen Lippen, als dass er ihn verbarg. Gloria Gomez’ Beschreibung würde auf ihn passen. Und sein Vorname war leicht mit Lyle oder Miles zu verwechseln – den beiden Namen, die sie genannt hatte. Aber bis jetzt konnte man seinen Anblick auch durchaus als Bild der Unschuld deuten: Er sah freundlich aus, ein bisschen verwirrt und ein bisschen verärgert.
Taylor stützte einen Fuß auf den Stuhl neben dem Bett und schlug sein Notizbuch auf. »Wie alt sind Sie, Kyle?«
»Siebenundzwanzig. Warum?«
»Wie fühlen Sie sich?«, fragte Kate.
Jensen sah auf seine bandagierten Hände, als ob das bloße Erscheinungsbild ihm etwas über ihren Zustand verraten könnte. »Ganz gut.« Seine hellblauen, rhombenförmigen Augen trafen Kates, sie waren völlig ausdruckslos. »Worum geht’s hier eigentlich?« Seine Stimme war hoch und heiser.
»Wir führen gerade eine Untersuchung über Leute durch, die mit schweren Verletzungen in die Notaufnahme kommen«, erklärte Taylor liebenswürdig. »Wie haben Sie sich die Schnittwunden an den Händen zugezogen, Kyle?«
»Das soll eine schwere Verletzung sein?« Er wedelte mit beiden Händen in der Luft herum. »Das war bloß ein saublöder kleiner Unfall.«
»Wenn eine Operation notwendig ist, müssen die Verletzungen schon ziemlich gravierend sein. Erzählen Sie uns, wie es dazu kam.«
Jensen zuckte die breiten Schultern. »Ich hab den Müll rausgebracht. Bin ausgerutscht, voll auf die Schnauze gefallen und hab mir die Hände an ’ner Dose aufgeschnitten.« Er verzog schmerzlich den Mund. »Die Dinger sind verdammt scharf. Ich hab geblutet wie ein Schwein.«
Kate nickte. Es klang sehr überzeugend. »Wo war das?«
»Bei meinem Wohnblock. Unten im Hof.«
»Hat Sie jemand gesehen?« Als Jensen den Kopf schüttelte, fuhr Kate fort: »Wann ist das passiert?«
»Heute Morgen … so gegen acht.«
»Wann sind Sie ins Krankenhaus gekommen?«
»So ungefähr um zehn.«
»Sie waren so schwer verletzt, dass eine Operation nötig war, Kyle. Warum haben Sie bis zehn Uhr gewartet?«
»Ey, ich hab nicht gewusst, wie mies ich dran war, bis ich hier gelandet bin. Ich hatte Handtücher drumgewickelt, es hatte aufgehört zu bluten. Aber meine Freundin, die is’ total ausgerastet – sie hat mich hierher verfrachtet.« Er stupste mit einer bandagierten Hand an seinen Krankenhauskittel. »Diese Clowns hier verpassen dir allen möglichen Scheiß. Zwingen dir ’ne Behandlung auf, bloß weil sie scharf auf dein Geld sind.«
»Wie heißt Ihre Freundin, Kyle?«
»Shirl. Shirley Johnson.«
»Lebt sie mit Ihnen zusammen?«
»Klar.«
»Wo arbeiten Sie?«
»Warum? Was zur Hölle hat das alles zu bedeuten?«
»Reine Routine«, sagte Taylor. »Wir müssen sichergehen, dass Sie uns keinen Bären aufbinden, dass Sie nicht einen Dritten schützen wollen, der Ihnen die Verletzungen zugefügt hat.«
»Ich schütz bestimmt keinen – und ich hab nicht die leiseste Ahnung, was dieser Quacksalber mit mir angestellt hat, aber ich brauch jetzt unbedingt ’ne Schmerztablette.«
Kate sagte beiläufig: »Wir würden Ihnen gern noch weitere Fragen stellen, Kyle. Wir haben gehört, dass Sie heute Abend entlassen werden. Was halten Sie davon, wenn wir Sie mit dem Auto abholen, kurz bei uns auf dem Revier vorbeifahren und Sie anschließend nach Hause bringen?«
Er zuckte mit den Achseln und legte sich in seine Kissen zurück. »Meinetwegen. Ich mach alles, um diesen Scheiß hinter mich zu bringen.«
Kate ging zu dem Polizisten, der vor Kyle Jensens Zimmer postiert war. »Hat er Sie gesehen, Dale?«, fragte sie und deutete mit einer Kopfbewegung auf die geschlossene Tür des Krankenzimmers.
Der schmächtige junge Beamte schüttelte grinsend den Kopf. »Kein Stück.«
Kate grinste zurück und sagte: »Sorgen Sie dafür, dass es so bleibt.«
»Null problemo.«
»Und fragen Sie Schwester Donnelly, wie seine Kleidung aussah, als er herkam. Lassen Sie sich was über die Handtücher erzählen, mit denen er seine Hände bandagiert hatte.«
»Geht klar.«
Taylor folgte ihr kommentarlos über den Flur zu den Fahrstühlen. Er wusste so gut wie sie, dass sie trotz Gloria Gomez’ Beschreibung und den verdächtigen Schnittwunden an Jensens Händen keine hinreichende rechtliche Grundlage für eine Verhaftung oder auch nur für eine kurzfristige Festnahme hatten, ganz zu schweigen von einem Durchsuchungsbefehl, um an die schmutzigen Handtücher zu kommen.
Jensen hatte ihnen – wenn auch zweifellos unbeabsichtigt – einen großen Gefallen getan, als er sich spontan bereit erklärte, aufs Revier zu kommen, um weitere Fragen zu beantworten. Entweder glaubte er ihnen die Geschichte mit der routinemäßigen Befragung von Schwerverletzten, oder er war felsenfest davon überzeugt, dass er nicht mit dem Mord in Verbindung gebracht werden konnte. Vielleicht glaubte er auch, dass er sich alle Türen offenhalten konnte, wenn er sich kooperationsbereit zeigte. Oder er war ganz einfach unschuldig. Sie und Taylor hatten eine Menge Arbeit vor sich. Beim nächsten Gespräch mit Kyle Jensen musste sie gut vorbereitet sein.
North Western Avenue Nr. 1699 lag ganz in der Nähe, ein fünfstöckiges Ziegelsteingebäude Ecke Hollywood Boulevard. Über die Fassade liefen verrostete Feuertreppen im Zickzackmuster. Die roten Ziegelsteine waren durch die jahrzehntelange Luftverschmutzung mit einer schmierigen Kohlenstaubschicht überzogen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite erstrahlte ein ähnliches, stuckverziertes Gebäude in frischgetünchtem Rosa. Über eine Feuertreppe war ein Transparent gespannt: Se Rentan Apartamentos. Am müllübersäten Hollywood Boulevard befand sich ein schäbiger Laden mit der Aufschrift Schnäppchen, daneben eine Billardbar, ein Würstchenstand und eine Pfandleihe.
Die kleine Eingangshalle des Wohnblocks starrte vor Schmutz und roch nach Zwiebeln und gekochtem Kohl. Auf dem gesprungenen grauen Fliesenboden unter den Briefkästen stapelten sich herrenlose Postwurfsendungen. Die Namensschilder an den Briefkästen bestanden aus abgerissenen Zetteln, die in Ritzen gestopft oder mit weißem Klebeband befestigt waren.
»Ein Palast«, murmelte Taylor.
»Wir haben schon Schlimmeres gesehen«, erwiderte Kate.
»Wie gesagt – ein Palast.«
Sein Ton war knapp – ein weiterer Hinweis für Kate, dass ihm dieser Fall zuwider war. Leck mich am Arsch, dachte sie. Sie würde schon dafür sorgen, dass er seine Arbeit tat.
Er inspizierte den Briefkasten von Wohnung 209. Das Namensschild bestand aus einem abgerissenen Stückchen Pappe und war mit Isolierband festgeklebt. Zwei Namen standen auf der Pappe: K. Jensen und B. Dayton. »Hieß die Freundin, mit der er angeblich zusammenlebt, nicht Shirley Johnson?«, fragte Taylor.
»Lass uns einen Blick auf den Hinterhof werfen«, sagte Kate. »Mal sehen, ob wir die ominöse Schinkendose finden.«
Der mit Rissen durchzogene Zementboden auf der Rückseite des Gebäudes war mit Zeitungen, Glasscherben und Verpackungen von Fertiggerichten übersät.