Ungehorsam versus Institutionalismus. Schriften 5. Ulrich Sonnemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ulrich Sonnemann
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Афоризмы и цитаты
Год издания: 0
isbn: 9783866744820
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einer großen abendländischen Tradition – ein zersetzendes Moment im positiven Sinn?

      Ulrich Sonnemann: Ja, ja, in einer Zeit, in der das Nichtige vorherrscht, ist die Verneinung des Nichtigen das einzig Positive.

      Dieter Hasselblatt: Beziehen Sie sich dabei ausdrücklich auf die »Dihairesis« des Aristoteles? Oder war Geist für Sie …

      Ulrich Sonnemann: Gar nicht so ausdrücklich, sondern das sind eigentlich Sachverhalte, die in jeder Generation spontan von neuem aufgehen, aufgehen sollten.

      Dieter Hasselblatt: Sie sagen »spontan«, und damit sind wir bei einem weiteren Begriff Ihres Denkens. Die Spontaneität spielt für das, was Sie anzielen, eine große Rolle.

      Ulrich Sonnemann: Ja. – Ja.

      Dieter Hasselblatt: Die soll sich wie äußern?

      Ulrich Sonnemann: In einer unerrechenbaren Unabhängigkeit der Urteilsentscheidungen auch und gerade auf seiten der Intellektuellen, die sie sozusagen unzuverlässig macht vom Standpunkt jedweden Apparats.

      Dieter Hasselblatt: Das heißt also, Sie wollen in unser Gesellschaftssystem ein Unruhemoment eingebaut wissen, das legitimerweise beunruhigen soll und sich selbst beunruhigt fühlen soll.

      Ulrich Sonnemann: Ja, ich will es gar nicht einbauen, es ist bereits da …

      Dieter Hasselblatt: … Sie selber sind ja ein Repräsentant …

      Ulrich Sonnemann: … es muß nur noch kräftiger entwickelt werden.

      Dieter Hasselblatt: Nun sagen Sie in Ihrem Buch einmal, die Anstöße dazu können »nicht mehr aus der älteren Generation kommen«15. Darf ich Sie fragen, zu welcher Generation Sie sich selber zählen? Ulrich Sonnemann: Zweifellos zur älteren.

      Dieter Hasselblatt: Aber Sie geben ja Anstöße in dieser Richtung?

      Ulrich Sonnemann: Ja nun, es gibt auch andere aus der älteren Generation …

      Dieter Hasselblatt: … Sie klammern sich …

      Ulrich Sonnemann: … ich klammere mich gar nicht aus der älteren Generation aus. Wir sprachen ja über diesen kalendarisch-soziologischen Punkt schon etwas früher, und ich sagte, daß das mit dem Generationenwechsel natürlich nur cum grano salis, eben soziologisch zu verstehen sei. Das ginge ja gar nicht anders, als daß eben doch irgendwo aus der älteren Generation die Anstöße kommen, denn die junge kann sozusagen ihren eigenen Kahn, wie in den Generationswechseln der Geschichte ja üblich, gar nicht recht abstoßen, außer es ist etwas da, wovon sie ihn abstoßen kann. Wenn nun das Wesensbild der älteren Generation so wenig da ist wie das der älteren Generation für diese heutige junge, so besteht in dieser Hinsicht ein besonderer Notstand.

      Dieter Hasselblatt: Die jüngere Generation wäre für Sie also ein Garant dafür, daß Deutschland in absehbaren Jahrzehnten nicht mehr ein ›Land unbegrenzter Zumutbarkeiten‹ ist?

      Ulrich Sonnemann: Ja nun: natürlich die einzige – die einzige, wenn wir überhaupt hier in Generationen denken.

      Dieter Hasselblatt: Sie sagen es einmal so: »Deutschland wird ungewöhnlich sein oder es wird nicht sein«16. Das ist ein sehr entschiedenes und sehr energisches und hartes Wort. »Deutschland wird ungewöhnlich sein oder es wird nicht sein.«

      Ulrich Sonnemann: Das hat einerseits mit deutscher Geschichtserfahrung zu tun und andererseits mit den Besonderheiten, den zeitlosen Besonderheiten des deutschen Bewußtseins, das ein besonders reflexives Bewußtsein ist, das heißt im Jetzt und Hier nicht so leicht und einfach aufgeht, wie das der Völker im Westen und übrigens auch der im Osten auf ihre Weise.

      Dieter Hasselblatt: Auch darin räumen Sie Deutschland eine Sonderstellung ein?

      Ulrich Sonnemann: Ja, nur ist es mir nicht um die Sonderstellung als Sonderstellung zu tun.

      Dieter Hasselblatt: Sondern um Deutschland?

      Ulrich Sonnemann: Ja, um die Bestimmung, um eine Positionsbestimmung des deutschen Bewußtseins und der deutschen Situation in dieser Zeit. Wenn ich Vergleichbares für andere Völker versuchen würde, so würde man wahrscheinlich auch für sie, für jedes einzelne von ihnen, zu irgendwelchen Besonderheiten kommen, die sie von allen andern abheben. Für Deutschland sind dies die Besonderheiten.

      Dieter Hasselblatt: Ich möchte Sie ganz konkret fragen: Die Bundesrepublik, so scheint es, betrachtet sich als Erben des 20. Juli und ruft gleichzeitig die Jugend der Bundesrepublik zur Nachfolge des 20. Juli auf. Ist das nicht ein grotesker Widerspruch?

      Ulrich Sonnemann: In vieler Hinsicht. Vielleicht kommen wir der Sache schneller auf den Grund, wenn Sie Ihre Frage noch etwas weiter spezifizieren. Widerspruch womit oder wogegen?

      Dieter Hasselblatt: Wenn die Bundesrepublik sich als Erben des 20. Juli betrachtet, als geistigen Erben des 20. Juli, und gleichzeitig die Jugend auffordert, im Geiste des 20. Juli zu leben und zu handeln, dann bedeutet das, daß die Jugend gegen eine Obrigkeit, mit der sie nicht einverstanden ist, opponieren und revoltieren müßte. Und das wäre nun gerade die Bundesregierung, die wir derzeit haben.

      Ulrich Sonnemann: Ja.

      Dieter Hasselblatt: Ist das nicht ein Widerspruch?

      Ulrich Sonnemann: Das ist ein – ich würde fast sagen – erfreulicher Widerspruch, weil das Erbe der Kämpfer des 20. Juli von sich aus hier dafür sorgt, daß über diese Zwischenträger die Jugend doch hingelenkt wird auf das, was die Leute des 20. Juli in ihrer Zeit waren. Sie waren nämlich willens, vielleicht etwas zu spät, waren es aber schließlich dann doch, sich mit ihren Gegenwärtigkeiten auseinanderzusetzen. Und darin liegt der Wink, daß die heutige Jugend es abermals mit den ihrigen tun sollte. Daß also Opposition, die auf Chruschtschowsche Weise – ich erinnere an das vergangene und das jetzige Verhältnis Chruschtschows zu Stalin17 – immer nur gestürzten oder gar toten Tyrannen gilt, nicht viel wert ist, sondern daß sie es eben immer mit dem Gegenwärtigen zu tun hat. Womit nicht gesagt sein soll, daß die politische Herrschaft im gegenwärtigen Deutschland eine Tyrannei ist, sondern daß sowohl in den Seelen wie auch in der Gesellschaftsordnung wie zum Teil auch im praktischen Gebrauch, den man von den Gesetzen und vom Grundgesetz macht oder auch nicht macht, doch immer noch allzu viel Tyrannisches liegt. Mit diesem müßte sich die Jugend nach dem Vorbild der Leute vom 20. Juli – das ja übrigens verbesserbar bleibt, auch das ist, glaube ich, nur im Sinne dieser Leute des 20. Juli – auseinanderzusetzen; oppositioneller, das liegt in der Natur der Sache, als bisher.

      Dieter Hasselblatt: Es ist für jemanden, der jünger ist als Sie, von einer großen Faszination zu sehen, wie Sie diesem Deutschland, das vor unseren Augen zusammenbrach, wieder eine Funktion im Chor der europäischen Stimmen, und nicht nur der europäischen, zu geben versuchen. Sie sagen da an einer Stelle, daß der Deutsche der Welt die Freiheit »vorzuleben« hätte, die allein der »Garant eines künftigen Friedens« sein könnte18. Meinen Sie mit dieser Freiheit das, was Sie an einer anderen Stelle die »selbstgewählte Schutzlosigkeit« nennen19?

      Ulrich Sonnemann: Ja, genau das. Es scheint mir, daß – nach dem, was in der voraufgegangenen Zeit an maximal Schlechtem in Deutschland geschehen ist – es sozusagen in der Dialektik, in der Gesetzlichkeit der Geschichte selber liegt, jetzt das Gegenteil heraufführen zu müssen. Und es fällt mir auf, daß die »selbstgewählte Schutzlosigkeit«, als welche man die Freiheit bestimmen kann, noch niemals – den Erwartungen der Militärtechniker zum Trotz – geschichtlich zu Katastrophen, sondern immer nur zum Gegenteil geführt hat. Ich darf hier übrigens doch ganz explizit wieder an das englische Modell erinnern. Wie hatten die Engländer wirklich abgerüstet vor dem Zweiten Weltkrieg, wie völlig unbereit waren sie zu dem, was dann kam, und wie vermochten sie es zu meistern, nachdem es einmal gekommen war? Wenn in Deutschland schon immer die Präokkupation mit der Apparatseite der Dinge eigentlich vorherrscht und die Willensentscheidungen, denen der Apparat doch zu dienen hat, der menschlichen Ordnung der Dinge oder der Ordnung des Menschen selbst nach, hinter