Fundamentalismus – maskierter Nihilismus. Christoph Türcke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christoph Türcke
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783866743328
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      Zuerst muss etwas da sein, dann kann es benannt werden. So auch beim Fundamentalismus. Er ist ein Kind der industriellen Revolution. Ab der Mitte des 19. Jahrhundert begannen sich in Mitteleuropa allmählich seine Konturen abzuzeichnen, aber es dauerte noch ein halbes Jahrhundert, bis das Wort fiel, das ihm dann als sein Eigenname anhaften sollte. Das geschah in den USA und war ein Musterfall von american sponsoring. Ein streng protestantischer Ölmillionär aus Südkalifornien, Lyman Stewart, begründete 1910 eine Schriftenreihe, die ein großes »Zeugnis der Wahrheit« geben, »die besten und loyalsten Bibellehrer der Welt« versammeln und deren »Meisterstücke« veröffentlichen sollte. Und »um sicherzustellen, dass die Wahrheit nicht wegen Unerschwinglichkeit darbe«, ordnete er freie Verteilung an jeden Pastor, Missionar, Theologieprofessor, Theologiestudent, College- und Sonntagsschullehrer in der englischsprachigen Welt an: »insgesamt etwa drei Millionen Einzelbände«.6 Er ließ sich »die Wahrheit« wahrlich einiges seiner Ölprofite kosten, gab der Schriftenreihe den programmatischen Titel The Fundamentals, verlangte, sie möge für jeden verständigen Menschen klar herausarbeiten, worauf in der Zeit des großen sozialen und mentalen Umbruchs einzig unbedingter Verlass sei, nämlich auf Gottes in der Bibel aufbewahrtes Wort – und setzte mit dem Gottvertrauen eines calvinistischen Geschäftsmannes auf den Erfolg seiner Investition. Der war zunächst nicht sehr durchschlagend. Dafür stellte sich eine Langzeitwirkung ein. Wie das Bestehen auf unverbrüchlicher Gültigkeit und Wahrheit der heiligen Schrift das gedankliche Zentrum der neuen Schriftenreihe war, so wurde die Reihe selbst allmählich zum Sammelbecken all der protestantischen Strömungen, die die moderne industrielle Welt als Ausverkauf ihres Glaubensfundaments erfuhren.

      Dass nur die gepredigte und geglaubte Schrift selig machen könne, war zwar seit Luther allgemeiner protestantischer Grundsatz, aber die kirchliche Hierarchie und Staatstreue, die der europäische Protestantismus sogleich zu pflegen begann, versetzte die Kirchenoberen sehr bald wieder in die Rolle von Hirten, die den Schafen sehr deutlich sagten, wie sie die Schrift zu verstehen hatten. In den nordamerikanischen Kolonien war das anders. Ihre Besiedlung war durch Flüchtlinge erfolgt, Leute, die sich der Hierarchie der anglikanischen Kirche und der englischen Staatsraison nicht unterwerfen, sondern allein Christus als Herrn anerkennen wollten. Sie hatten, als sie ihre kleinen Schiffe nach Westen bestiegen, nichts mitgenommen als ein paar persönliche Habseligkeiten, das Vertrauen, von Gott zu einem neuen Exodus geführt zu werden – und, natürlich, die Bibel. Sie war für sie das höchste Gut, das sie über den Ozean gerettet hatten. An ihr machten sie die Pfeiler ihrer Lebensweise fest: die patriarchale Familienstruktur und das protestantische Arbeitsethos. Das neue Land war groß und fruchtbar, es gab genug Platz für alle Varianten des protestantischen Grundgedankens, für Presbyterianer, Baptisten, Methodisten, Quäker, keine Oberinstanz, die eine davon zur Staatsreligion hätte erheben wollen, zwar Theologen und Prediger, aber viel weniger theologische Gelehrsamkeit und Bevormundung als in Europa. In den weit verstreuten ländlichen Gemeinden wurde das eigene unreglementierte Lesen der heiligen Schrift zur Keimzelle einer neuen basisgemeindlichen Selbstständigkeit, der Familienvater zum zentralen Vorleser der Schrift. Und so fand eine viel größere libidinöse Besetzung der Schrift als in Europa statt – mit allen Skurrilitäten, die das mit sich brachte, wenn eine unbedarfte ländliche Bevölkerung glaubte, unmittelbar zu verstehen, was mit den Texten, die jüdische Gelehrte zweitausend Jahre zuvor aufgezeichnet hatten, gemeint sei.

      In diese Welt eines ebenso bodenständigen wie versponnenen Biblizismus begann die kapitalistische Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit atemberaubender Geschwindigkeit einzudringen. Wellen von Einwanderern katholischer und jüdischer Herkunft strömten ins Land, große Städte bildeten sich und sogen die Landbevölkerung an. Die traditionellen protestantischen Milieus lösten sich auf oder sanken zu Subkulturen ab – und empfanden das als Untergrabung ihrer Lebensleistung, all dessen, was Amerika groß gemacht hat. Sie verkannten freilich, dass ihre dezentrale basisgemeindliche, biblizistische Lebensweise nicht nur der kulturelle Nährboden der amerikanischen Demokratie war, der die USA zu God’s own country gemacht hatte; auch die aufkommende kapitalistische Industrialisierung hatte im protestantischen Arbeitsethos und der demokratischen Verfassung ihre stärksten Verbündeten. Sie selber hatten die USA zum Land der unbegrenzten Möglichkeiten gemacht, sie selber waren der Magnet, der all das Fremde anzog, was nun in die USA eindrang und ihnen den Lebenshalt zu rauben drohte: fremde Menschen, Sitten, Lehren.

      Fundamentals heißt »Grundsätze«. »Fundamentalist« war zunächst kein Schimpfname für verbohrte Fanatiker, sondern ehrenvolle Selbstbezeichnung: Wir sind Leute, die noch Grundsätze haben, keine charakterlosen, haltlosen Gesellen, wie sie die moderne Lebensweise massenhaft produziert. Spiel, Tanz, Prostitution und Berufstätigkeit der Frau wurden als Wahrzeichen der neuen Haltlosigkeit wahrgenommen: als Zersetzung der Familie, der Keimzelle der basisgemeindlichen Gesellschaft. Das Milieu, das sich um The Fundamentals formierte, war ein protestantisches Protestmilieu. Es ging ihm um den Erhalt einer jahrhundertelang bewährten civil society. Und die war eben ohne vitalen Biblizismus nicht zu denken. Deshalb wurde unter den modernen Theorien, die mit jeder neuen Einwanderungswelle aus Europa herüberkamen, eine als besonders einschneidend empfunden: die Lehre Darwins.

      Darwins Entstehung der Arten von 1859 bestreitet bekanntlich die Sonderstellung des Menschen. Der Mensch ist bloß eine höhere Tierart. Alle Arten sind geworden: aus einfacher gebauten hervorgegangen, Modifikationen von Früherem. Das gilt auch, wenn strittig bleibt, ob Modifikationen zielgerichtete Anpassungsvorgänge an die Umwelt sind, oder ob die Modifikationen, die jeweils genügend angepasst waren, das Glück hatten, zu überleben. Auch die Spezies Mensch ist eine Modifikation, will sagen, aus einer einfacheren Tierart hervorgegangen. Und die ihnen am ähnlichsten bezeichnet sie selbst als »Menschenaffen«. Alles andere als abwegig, dass wir in ihnen unsere Vorfahren anschauen – selbst dann, wenn sich herausstellt, dass sie nicht die unmittelbaren Vorfahren sind, sondern nur eine entfernte Seitenlinie davon.

      Darwins Evolutionstheorie hatte überall heftigen Protest der christlichen Kirchen hervorgerufen. Selbstverständlich wurde sie in den Syllabus errorum aufgenommen, ein Verzeichnis von achtzig Irrtümern in Religion, Wissenschaft, Politik und Wirtschaftsleben, das der Vatikan 1864 herausgab. Aber dort war sie nur ein Lapsus unter vielen neben Galileis Astronomie und Kants Vernunftkritik, französischem Materialismus und deutschem Sozialismus. Das katholische Lehramt bestand aus hochgebildeten Intellektuellen mit einem enormen Überblick über das neuzeitliche Denken. Nur so konnten sie es überall dort zensieren, wo es das komplexe katholische Dogmengebäude angriff. Sie hatten natürlich gelesen, was sie dem Kirchenvolk zu lesen verboten. Ein solches großintellektuelles Warnsystem fehlte dem amerikanischen Protestantismus. Um so vitaler fühlte sein schlichter Biblizismus sich angegriffen, als Darwins Lehre mit Macht in den USA vordrang. Sie wurde zu seinem intellektuellen Hauptgegner.

      Das lag zum einen daran, dass Darwin eine ganz besondere Attraktion bot, genauer: nicht er selbst, sondern der Sozialdarwinismus mit seinem Analogieschluss: Wie im Tierreich, so in der menschlichen Gesellschaft. Wie es dort den Arten ergehe, so hier den Individuen. Auch das soziale Leben sei ein beständiges Fortschreiten, und wer sich dem Fortschrittstempo der modernen Gesellschaft nicht anpasse, gehe unter. Das sei das Gesetz der Evolution. Dies »Gesetz« hatte in den USA Ende des 19. Jahrhunderts enorme Plausibilität. Man konnte es geradezu calvinistisch interpretieren. Sich dem rasanten Fortschritt anpassen – war das nicht die einzige Chance, einen göttlichen Wink zu bekommen, ob man zu den Erwählten gehört? Andrerseits bestand kein Zweifel: Das Gesetz der Evolution war zutiefst gottlos, denn es widersprach der Bibel. Man musste nur das erste Kapitel aufschlagen: »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde«. Darauf hatte sich jahrhundertelang die Sicherheit der eigenen Lebensweise gegründet. Nun kamen Einwanderer, die diese Lebensweise nicht teilten, und mit ihnen eine Lehre, die vorschlug, sich an etwas so Unbeständiges wie den Fortschritt zu halten. Dagegen starteten The Fundamentals ihre Offensive der Wiederbelebung. Wie jeder einzelne Protestant durch persönliche Begegnung mit der heiligen Schrift zu gottgefälligem Leben, so sollte nun eine ganze protestantische Lebensweise und Kultur wiedererweckt werden.

      Dazu musste vor allem dreierlei unterbunden werden: Einwanderung von Nichtprotestanten, haltloser Kapitalismus und German Kultur.7 Kam doch aus Deutschland, neben